Scherenschnitt

Mehr als Kunsthandwerk

Von Günter Beyer · 25.01.2014
Henri Matisse und andere berühmte Künstler waren begeistert vom Scherenschnitt. Ihre Kreationen zeigt nun das Horst-Janssen-Museum in Oldenburg in einer elektrisierenden Schau.
Die Arbeit ist fast dreizehn Meter lang und reicht bis zur Decke. Sie zeigt zwei wie mit breitem Pinsel rasch auf die Wand geworfene Wellenbänder, die sich mehrfach verschlingen. Aber Andreas Kocks, der Künstler, ist kein Maler. Sein Werkstoff ist mit Graphit geschwärztes Papier, das er präzise geschnitten und an die Museumswand montiert hat
"Der erste Schritt ist eigentlich der, dass ich den Ort besuche, Fotos mache, die Maße nehme und dann im Atelier zu Hause ´n Modell baue, dass es später beim Aufbau der Arbeit dann relativ leicht zu übersetzen ist vom Modell an die wirkliche Wand. Und mir geht´s, wenn ich so einen Dialog mit dem Raum schaffe, viel darum, auch ne individuelle Geste, und deswegen auch ne malerische Geste zu zeigen und dann einen Kontrast herzustellen zwischen meiner Arbeit und dem Raum. Und das kann eben so wie hier ein pinselstrichartiger Gestus sein."
Papierschnitt, so wie Andreas Kocks ihn versteht, hat nichts gemein mit den süßlichen, kunsthandwerklichen Scherenschnitten und Miniatursilhouetten von einst. Die Ausstellung versucht gar nicht erst, die jahrhundertealte Geschichte dieses Mediums zu erzählen, sondern springt gleich mitten hinein in die Gegenwart.
"Bei uns ist es tatsächlich so, dass die Künstler sich gar nicht mehr auf diese Tradition des Scherenschnitts zurückbesinnen. Sondern wirklich ganz eigenständige künstlerische Positionen entwickeln."
Papier ist nicht gleich Papier
Für Sandrine Teuber, eine der Kuratorinnen, ist Papier ein aktueller Werkstoff mit unerschöpflichen Möglichkeiten.
"Papier ist ja nicht Papier. Geht man in den Künstlerbedarf, kann man ja schon mal in den Regalen schauen, dass sie unterschiedlich schwer sind und ne unterschiedliche Oberflächenstruktur haben. Und wenn man´s dann noch bearbeitet, verändert sich das Papier."
Und das führt überzeugend Birgit Knoechl vor Augen.
"Prinzipiell, es geht mir um den erweiterten Begriff der Grafik."
Aus einer Saalecke quillt ein hypertrophes Gewölle aus schwarzen, grauen und weißen Aquarellpapierbahnen hervor. "Out of control" nennt die Wienerin ihre expressive Arbeit, die an jedem Ausstellungsort spontan und anders entsteht.
"Im Vorfeld mache ich meine Tuschezeichnungen von unterschiedlichen Pflanzenformen, parasitären Pflanzen, also so Art Hybriden, mach meine Archive, und aus diesen schöpfe ich dann. Manchmal brauche ich das ganze Archiv. Und manchmal brauche ich wirklich nur einen Teil davon."
Birgit Knoechls "außer Kontrolle" geratener Wust explodiert geradezu in die dritte Dimension, Papier hat skulpturales Potential. Und das ist vielleicht die größte Überraschung dieser Ausstellung. Papierschnitt spielt sich keineswegs bloß auf planer Fläche ab, sagt Kuratorin Paula von Sydow:
"Wir haben ein Blatt Papier in der Grafik normalerweise. Diese Dimension wird verlassen. Es wird geknüllt, es wird gerafft und in den Raum transportiert. Oder eben halt wie bei der Sandra Kühne ganz zart, so viel zurückgeschnitten, dass im Grunde genommen das Papier die Linie ist. Aber auch wieder im Raum installiert."
Klug gemachte Schau
Räumliche Tiefe entsteht auch dadurch, dass die meisten Arbeiten nicht direkt auf die Wand platziert, sondern mit Stiften auf Abstand gehalten werden und Schatten werfen. Bei Tilmann Zahn, dessen abstraktes rostfarbenes "Hybridgerüst" an eine Gitterbrücke erinnert, dient diese Verdopplung in Papieroriginal und Schattenbild dazu ...
" ... vor allem, das Filigrane der Konstruktion herauszustellen. Denn meine Arbeiten sind Abbildungen oder Verarbeitungen von massiven Konstruktionen, meistens Stahlkonstruktionen, und die Patina, die ich auftrage auf das Papier, erinnert auch relativ stark an rostiges Metall. Und es geht mir darum, die Gleichzeitigkeit von vordergründig Stabilem mit Fragilem, mit Fragilität, darzustellen. Alles, was wir erschaffen, auch die massivsten gewaltigsten Bauten, ist letztlich viel fragiler, als wir denken!"
In dieser klug gemachten, elektrisierenden Schau hätte man gern noch weitere künstlerische Positionen gesehen als nur die 17 gezeigten.