Scheinhinrichtungen und menschliche Stiere

Rezensiert von Gregor Ziolkowski · 12.04.2006
Der zweite Teil von Javier Marías' Romantrilogie "Dein Gesicht morgen" exerziert anhand der Hauptperson Jaime diverse Wirklichkeitsumschreibungen durch. In einem Strom von Reflexionen und Erinnerungen verknüpft Jaime verschiedene (gewalttätige) Begebenheiten und befasst sich indirekt damit, was sich von der Wirklichkeit eigentlich erzählen lässt.
Deutlich griffiger in einem narrativen Sinn präsentiert sich der zweite Teil von Javier Marías' Trilogie "Dein Gesicht morgen". Im Zentrum steht eine sehr konkrete Episode: Jaime Deza, der vom Geheimdienst MI-6 engagierte Sprachwissenschaftler, wird von seinem Chef beordert, die Gattin eines etwas zwielichtigen Italieners in einer Londoner Edeldiskothek zu unterhalten, während er - der Chef - mit jenem Italiener ein Gespräch oder eine Verhandlung führt. Nett soll Jaime zu der zur Reife übertretenden schönen Frau sein, keinesfalls mehr, das würde Schwierigkeiten bringen - und die Gespräche vermutlich beeinträchtigen.

Aber da erscheint - der aus dem ersten Teil bekannte - tumbe Kulturattaché der spanischen Botschaft Rafael de la Garza, ist - wie immer - auf der Suche nach einem Abenteuer und geht entsprechend zur Sache. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit genügt, und der Kulturattaché ist mit der Dame im Gewühl der Tanzenden verschwunden. Oder gar schon aus der Diskothek entwischt, um genau die Probleme anzurichten, vor denen Jaimes Chef so ausdrücklich gewarnt hatte?

Jaime und sein Chef machen sich auf die Suche, alles muss sehr schnell gehen, bevor der zwielichtige, aber offenbar bedeutsame Italiener misstrauisch oder unruhig wird. Sie finden schließlich das Pärchen, leidenschaftlich tanzend, der Chef trennt die beiden, bringt die Dame zu ihrem Mann zurück und weist Jaime an, mit dem Kulturattaché in der Behindertentoilette auf ihn zu warten. Als er schließlich dort eintrifft, spielt sich eine unglaubliche Szene ab, eine Strafaktion gegen den Kulturattaché, die sich zu einer Scheinhinrichtung mit einem fast mittelalterlichen kurzen Schwert auswächst. Am Ende verliert der Attaché nicht seinen Kopf, sondern nur das alberne Haarnetz, das er sich als Schmuck für seinen nächtlichen Streifzug aufgesetzt hatte: eine grausame Lektion des Schreckens, die mit der Todesangst spielt.

Das Geschehen vollzieht sich innerhalb weniger Minuten, Marías erzählt es auf mehreren hundert Seiten. Sein Ich-Erzähler Jaime Deza, der bei der schaurigen Szene nur entsetzter und vom Schrecken gelähmter Zuschauer war, rekapituliert die Episode in seinen Gedanken und wird dabei beständig zu Reflexionen, Abschweifungen, Erinnerungen veranlasst, die natürlich deutlich mehr als die Szene in der Diskothek erzählen. Die Frage, was eigentlich die Wirklichkeit ist, steht dabei über dem gesamten Roman. Ist sie ein kurzes Gerangel in einer Behindertentoilette, bei der nicht mehr passiert, als dass ein Haarnetz zerschnitten wird? Oder ist sie nicht vielmehr ein hochdramatischer Moment, in dem es für einen Menschen um die Erfahrung von Todesangst ging, die sein weiteres Leben vermutlich verändern wird?

Im gleichen Maß ist die Wahrnehmung des Zeugen Jaime Deza nicht auf das tatsächlich Geschehene beschränkt, sie fügt sich ein in die Gesamtheit seines Wesens und Seins. Und so ist es geradezu zwangsläufig, dass das Auftauchen eines Schwertes Jaime zur Erinnerung an die Gespräche mit seinem Vater führt, in denen dieser ihm aus dem Bürgerkrieg und der frühen Franco-Zeit erzählte. Ein grausamer "Stierkampf", bei dem der Stier ein Republikaner war, den Franco-Leute entsprechend zurichteten und schließlich töteten, gerät ebenso ins Sinnieren Jaimes wie andere Geschichten aus der Nachkriegszeit, in denen die Allgegenwart von Gewalt eine zentrale Rolle spielte.

Aber auch hier hat es mit dem schlichten Erinnern längst nicht sein Bewenden. Denn mit der Wirklichkeit oder der Wahrheit ist unauflöslich die Frage verbunden, was, wann und wie sich davon erzählen lässt. Wann und in welcher Dosierung etwa sollte ein Vater seinen Kindern von solchen Geschehnissen erzählen? Oder gibt es ein Recht auf Schutz vor solchen Wahrheiten?

Seine eigenen Kinder, mehr aber noch das Verhältnis zu seiner Frau, die sich von Jaime getrennt hat und in Madrid lebt, spielt eine Rolle, ein Blutfleck auf dem weißen Schuh einer Frau erinnert an jenen anderen rätselhaften Blutfleck, den Jaime einst auf dem Treppenabsatz im Haus seines väterlichen Freundes gefunden hat - und wieder entwickeln sich Geschichten aus solchen Übereinstimmungen, Zufälligkeiten, Bildern.

Marías erzählt in langen, oft sehr langen Sätzen diesen Wahrnehmungs- und Erinnerungsprozess seines Helden. Das wirkt ausschweifend, manchmal langwierig, aber immer bleibt eine große Musikalität der Sprache erkennbar. Und immer auch unterläuft er diese mäandernden Sätze mit aphoristischen Sentenzen wie:

"Die Höflichkeit ist ein Gift, sie führt uns ins Verderben."

Javier Marías: Dein Gesicht morgen. Band 2: Tanz und Traum
Roman. Aus dem Spanischen von Elke Wehr.
Klett-Cotta, Stuttgart 2006.
430 Seiten, 23,50 Euro.