Scharfe Perspektiven, schnittige Boote

Von Jochen Stöckmann · 26.06.2008
Gustave Caillebotte hatte eine Schwäche für den Fortschritt und die Moderne. Statt alter Gässchen schaute er sich lieber die modernen Stahlkonstruktionen in Paris an. Anschaulich modern war auch seine Malerei. Die Kunsthalle Bremen hat ihn für die Ausstellung "Über das Wasser" wiederentdeckt.
Spiegelndes Parkett, durch eines dieser typischen, bis zum Boden reichenden Pariser Fenster fällt angenehm helles Licht in das leer geräumte Zimmer. Zwei Männer, einer mit nacktem Oberkörper, bearbeiten das Holz. Die Späne kann man überdeutlich sehen, Konzentration und Schweiß der "Parkettschleifer" förmlich spüren auf dem ein Meter breiten Ölgemälde.

Entstanden 1876, womöglich von einem Maler des Realismus, etwa in der Nachfolge Courbets, der 25 Jahre zuvor mit seinen "Steineklopfern" Aufsehen erregte? Gezeichnet ist das Bild mit "Caillebotte" - wer also war Caillebotte?

Dorothee Hansen: "Sein Schicksal war, dass er aus reichen Verhältnissen stammte, also frei war, in seinen Bildern zu machen, was ihm gefiel, keine Rücksicht zu nehmen darauf, was er verkaufen kann. Deswegen blieben sie im Besitz seiner Familie, kamen nicht auf den Markt, kamen nicht in die Museen, und deswegen sind sie zu einem großen Teil bis heute nicht bekannt."

Dorothee Hansen, Kuratorin der Caillebotte-Schau, hat im Bestand der Bremer Kunsthalle immerhin ein Gemälde gefunden, den Blick auf einen Bootshafen an der Seine, angekauft um 1960, und konnte nach aufwendiger Recherchearbeit die Leihgaben großer Museen aufstocken um bislang nie gezeigte, weltweit verstreute Arbeiten aus Privatbesitz. Mit Blick auf diesen thematisch dem "Wasser" gewidmeten Parcours betont Wulf Herzogenrath, Direktor der Kunsthalle, den Vorzug finanzieller Unabhängigkeit:

"Ein intellektueller Zugang, den nicht der Preis auf dem Markt interessiert, sondern das Denken über Kunst, das Formulieren von Neuem. Und das ist einfach großartig, diese Perspektiven, diese Anschnitte, die leeren Plätze."

Aus seinem Pariser Atelier hatte es Gustave Caillebotte aufs Land gezogen, genauer: ans Wasser der Seine. Dort malte er in spektakulärer Nahsicht, als habe er samt Staffelei mit im Boot gesessen, 1877 die "Ruderer".

Sie mühen sich ab wie die Arbeiter, allerdings im modischen Sportdress jener Zeit: Blaue Hose, weißes Leibchen und der Strohhut weisen sie als Bürger aus, die ihre Freizeit auf dem grün schillernden Wasser verbringen. Zwei Klassen also, die der Künstler Caillebotte in seinen Bildern aber nicht voneinander getrennt hat.

Dorothee Hansen: "Zwei Welten treffen zum Beispiel aufeinander, wenn er die Parkettabzieher malt, die in seinem eigenen Haus arbeiten. Die in sein großbürgerliches Ambiente kommen, aber nur, damit er danach sein Atelier einrichten kann. Allerdings haben die Kritiker ihm ja vorgeworfen, wenn man schon nackte Oberkörper male, dann sollten es auf jeden Fall schöne Modelle sein. Er hat den realistischen Zugriff, er nimmt die Menschen, die er sieht und malt sie - nicht das ideale Modell."

Dieser Realismus allerdings springt nicht sofort ins Auge, wirkt dafür aber lange nach, ist ebenso rokokohaft verspielt wie unbefangen experimentierend. Lässt auch eine ironische Note anklingen, wenn der Schriftsteller Richard Gallo geckenhaft mit schwarzem Anzug, Hut und Stöckchen am Flussufer bei Caillebottes Sommersitz Gennevilliers seinem Pudel hinterher spaziert. Viele Facetten also - und dennoch hat man diesen Künstler nicht nur in Deutschland übersehen?

Dorothee Hansen: "Ich fand das sehr überraschend, dass ein Artikel, der kurz nach seinem Tod erschienen ist, anfängt mit 'In der Nähe von Paris lebte ein Bootsbauer'."

Aber was für ein Bootsbauer, ein "Bootsbildhauer" sozusagen: Auf die gemalten Monumente, die Parkettarbeiter und Ruderer, folgen Caillebottes Entwürfe für Segelboote, veritable Holzmodelle, abstrakten Skulpturen gleich.

Dorothee Hansen: "Ein echtes, gebautes Segelboot ist auch monumental. So ein Segelboot hat auch glänzende Oberflächen und ein glattes Holz, wie die Parkettabzieher es bearbeiten. Also, da kann man sicherlich Verbindungen ziehen."

Verbindungen zu den frühen Interieurs etwa, zum Beispiel dem "Frühstück" mit einem perspektivisch fast ins Endlose überdehnten Esstisch, in dessen Holzlasur sich edles Kristall spiegelt. Mit diesem Gespür für die Qualitäten des Farbauftrages, nach der Ablehnung durch die Akademie und Jurys der jährlichen Salons hatte Caillebotte seine Wahlverwandtschaft zu den ebenfalls von allen offiziellen Ausstellungen ausgeschlossenen Impressionisten entdeckt.

Im Gegensatz zu einem Monet, Degas oder Renoir war er aber nicht darauf angewiesen, mit der häufigen Variation seiner Motive und Bilderfindungen den Kunstmarkt zu bedienen. So enthalten bereits einzelne Gemälde die Essenz seiner vielfältigen Bestrebungen. Vor allem zeigt sich darin Caillebottes Blick für die Moderne, die gewandelte Realität, das Paris des Barons Haussmann mit prächtigen Boulevards, aber auch mit weiten, in der Sicht dieses Malers geisterhaft leeren Plätzen.

Dorothee Hansen: "Seine Liebe zum Fortschritt, zum Modernen, die wird auch überall deutlich. Sowohl in seiner Malerei als auch in seinem Interesse an technischen Innovationen, am modernen Paris: Er weint den alten Gässchen keine Träne nach, er schaut sich lieber die moderne Stahlkonstruktion der Pont de l’Europe an. Er sucht die moderne Technik der Fotografie, aber auch im Bootsbau - seine Werft ist eine der modernsten."

Als überaus modern erweist sich auch die private Kunstsammlung Caillebottes: Testamentarisch hat er sie dem Staat vermacht, aber die Pariser Museen weigern sich nach seinem Tod 1894 über Jahre standhaft, die Schenkung von mehr als 70 impressionistischen Spitzenwerken allererster Güte anzunehmen.

Der Farbskala seiner Künstlerfreunde passt sich Caillebotte in seinen späteren Werken zunehmend an, bleibt aber bei seiner ganz eigenen Handschrift, der gewagten, kühnen Perspektive. Nur schaut er nicht mehr auf die Straßen von Paris, sondern über die schmalen Wege im weitläufigen Garten vor seiner Villa. Und mag vom Segeln und den Booten nicht lassen, etwa mit hellen Holzrudern, die vom grünen Wasser als abstrakte Komposition in gelb reflektiert werden:

Dorothee Hansen: "Die eher sanft gekräuselte Oberfläche, das spiegelnde Wasser. Diese Boote, mit denen er gefahren ist, hatten ja diese gewaltigen Segelflächen, einfach um den letzten Windhauch einzufangen. Und auch an der normannischen Küste geht es ihm nicht so sehr darum, die Gewalt der Natur, der Steilküsten oder der Wellen einzufangen, sondern die von den Menschen in Besitz genommene Natur. "

Das ist nicht die Wucht von Courbets wilder Brandungs-"Welle", wie sie in der Dauerausstellung der Bremer Sammlung zu sehen ist, aber auch kein harmloses Idyll. Sondern etwas ganz Neues, eine "Jahrhundert"-Entdeckung: nach so langer Zeit immer noch modern, anschaulich modern.