"Schaffung neuer Jobs wird verhindert"

Moderation: Birgit Kolkmann · 16.02.2006
Der EU-Parlamentarier Alexander Graf Lambsdorff hat vor einer "Verwässerung" der EU-Dienstleistungsrichtlinie gewarnt. Die ursprüngliche Fassung hätte nach seriösen Studien 600.000 Jobs in ganz Europa und 100.000 alleine in Deutschland gebracht, sagte der FDP-Politiker vor der Abstimmung des EU-Parlaments über die umstrittene Richtlinie. Dies sei nach der "Verwässerung" durch die rot-schwarze Koalition in Berlin nicht mehr möglich.
Kolkmann: Herr Lambsdorff, steht denn die Mehrheit nun für den Kompromiss?


Lambsdorff: Das wird eine sehr spannende Frage heute hier in den Abstimmungen. Der von Ihnen zu Recht als abgeschwächt bezeichnete Kompromiss enthält leider auch einen Abschnitt, der es dem Protektionismus ermöglichen würde, in Europa Fuß zu fassen. Und ob diese Passage durchkommen wird oder nicht, das wird entscheidend sein. Es wird eine sehr spannende Abstimmung. Kommt sie durch, wird also die Koalition aus Sozialisten und Konservativen dem Ganzen zustimmen. Gelingt es noch, sie zu verhindern, dann, habe ich gehört, werden die Sozialisten dem Kompromiss nicht mehr zustimmen, und dann ist in der Tat die Frage offen, wo die Mehrheit herkommen soll.

Kolkmann: Sie sind ja Mitglied im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz des Europaparlaments. Was glauben Sie, nach der Veränderung der Richtlinie, des Gesetzentwurfs: Welche Impulse kann sie dem Markt geben?

Lambsdorff: Das ist die Schlüsselfrage. Der Hintergrund dieser Richtlinie ist ja der, dass wir in Europa inzwischen unsere Wirtschaftsleistung zu 70 Prozent im Dienstleistungssektor erwirtschaften, 20 Prozent davon aber nur über Grenzen hinweg im Binnenmarkt. Und das Wachstumspotential, was hierin liegt, in dieser riesigen Diskrepanz, das sollte ja abgerufen werden mit dieser Richtlinie.

Deswegen hat der Kommissar, der das damals vorgelegt hat, das berühmte Herkunftslandprinzip da eingeführt, um kleinen und mittelständischen Unternehmern die Möglichkeit zu geben, auch in andere Märkte zu gehen, ohne zuvor irgendwelche Rechtsabteilungen da einschalten zu müssen oder Anwälte. Dadurch, dass das weg ist, dadurch, dass diese Möglichkeit weg ist und die kleinen Unternehmer jetzt eben keine Rechtssicherheit mehr haben, wenn sie über die Grenze gehen, wird der wirtschaftspolitische Impuls nicht mehr so ausfallen, wie er ursprünglich gedacht war. Es ist zu fragen, ob es ihn überhaupt noch geben wird.

Kolkmann: Von 600.000 neuen Arbeitsplätzen ist ja die Rede. Diese Zahl hat nach zwei Studien auch EU-Kommissionspräsident Barroso noch einmal gesagt. Ist das ein schöner Traum?

Lambsdorff: Nein, die Studien sind hier allgemein akzeptiert. Wenn also diese Richtlinie in der Form verabschiedet worden wäre, wie sie vom Binnenmarktausschuss dem Plenum vorgelegt worden ist, also in einer gegenüber dem ursprünglichen Entwurf schon modifizierten Fassung, dann hätte es tatsächlich zu diesem Effekt kommen können. 100.000 dieser Jobs – das darf man nicht vergessen – wären davon in Deutschland entstanden. Diese rot-schwarze Koalition, die sich jetzt auf die abgeschwächte Fassung geeinigt hat, muss sich schon fragen lassen, ob es in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit wirklich gute Politik ist, eine Richtlinie so zu verbessern, dass diese Jobs nicht mehr entstehen können.

Kolkmann: Vor allem die Gewerkschaften und viele Menschen befürchten ja auch Sozialdumping durch diese Richtlinie. Dabei gilt sie ja nicht für Arbeitnehmer, sondern, wie Sie eben schon angesprochen haben, für Selbständige, also für Firmen, die kommen. Was, glauben Sie, kommt da auf uns zu?

Lambsdorff: Also, was da auf uns zugekommen wäre, wäre in erster Linie eine Möglichkeit, Dienstleistungen in ganz Europa anzubieten, die wir in Deutschland haben. Wir dürfen ja eines nicht vergessen: Richtig ist, es hätte in einigen Branchen einen erhöhten Wettbewerbsdruck gegeben. Ich bin sehr intensiv in Gesprächen gewesen mit Vertretern des Handwerks insbesondere, das ist gar kein Zweifel, da hätte es mehr Druck gegeben. Auf der anderen Seite stehen aber zahlreiche Branchen, die in Deutschland sehr erfolgreich tätig sind, ihre Dienstleistungen aber im europäischen Ausland bisher nicht anbieten können, weil sie aus den europäischen Märkten ferngehalten werden.

Kolkmann: Können Sie da mal ein Beispiel nennen?

Lambsdorff: Fangen wir mit dem Handwerker an. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Ein Malermeister aus Aachen, der über die Grenze will nach Eupen, zehn Kilometer entfernt, muss beispielsweise seine Farbeimer in einem Auto transportieren mit einem belgischen Nummernschild. Das sehen die belgischen Behörden so vor. Mit anderen Worten: Dem erschließt sich dieser Markt nicht. Das kann er nicht machen. Er kann ja nicht extra ein neues Auto dafür kaufen, um seine Farbeimer zu transportieren – ein Beispiel.

Ein anderes Beispiel sind Ingenieurleistungen, Beratungsleistungen. Sie müssen in Frankreich und Belgien Ingenieure und Techniker fünf Tage vor Einreise anmelden, und das können Sie natürlich vergessen, wenn Sie mal schnell Bedarf haben, eine Maschine zu warten. Wir sind ja sehr stark im Maschinenbau, im Anlagenbau. Das heißt, die deutschen exportierten Maschinen müssen immer von entweder Ausländern gewartet werden, weil Deutsche nicht so schnell dahin kommen können, oder aber die deutschen Firmen müssen teure Niederlassungen gründen im Ausland. All diese Hemmnisse, die es gibt in Europa, die abzubauen, das ist der Sinn dieser Richtlinie, und es ist wirklich zu bedauern, dass hier die Konservativen und Sozialisten sich darauf geeinigt haben, diesen Effekt, diesen Dynamisierungseffekt so zu verwässern, dass er nicht mehr eintreten wird.

Kolkmann: Also ich entnehme Ihren Worten, die Liberalen sind sehr traurig über diese nun verwässerte - aus Ihrer Sicht - Richtlinie. Nun steht außerdem noch ein sehr schwieriges Verfahren bevor. Die Kommission will ja den Entwurf entsprechend ändern, wenn es eine Mehrheit im Parlament gibt. Dann aber müssen auch noch die Mitgliedstaaten zustimmen. Ist eine Mehrheit da keineswegs sicher?

Lambsdorff: Unter den Mitgliedstaaten im Rat gibt es mehrere, ich sage mal, Gruppen. Zwei sind davon besonders wichtig: Das eine ist die Koalition der Angst aus Italien, Frankreich und Deutschland, die alles dafür tun, um diese Richtlinie zu verwässern.

Das andere ist die Koalition der erfolgreicheren, der wachstumsstärkeren Länder, das sind England, Spanien, Irland, auch einige der Osteuropäer, die haben bereits einen Brief an den zuständigen Kommissar und gesagt, dass sie mit dieser verwässerten Fassung nicht leben wollen. Dass sie wieder die Dynamisierung erzielen wollen, die ursprünglich vorgesehen war, so dass die Diskussion unter den Vertretern der Mitgliedstaaten sehr interessant werden wird. Das Parlament wird dann in der zweiten Lesung die Ergebnisse dieser Diskussion zu entscheiden haben. Ich hoffe sehr, dass es da noch gelingen wird, tatsächlich den Effekt zu erzielen, der ursprünglich beabsichtigt war.

Kolkmann: Verliert Europa insgesamt ganz schön viel Zeit damit?

Lambsdorff: Natürlich, also diese Verfahren dauern lang. Da darf aber auch nicht zu kritisch sein. Wir sind ein großes Europa mit 450 Millionen Bürgern und 25 Mitgliedstaaten. Solche Dinge dauern lange. Es gab ja auch berechtigte Bedenken. Es muss Diskussionen geben. Ich finde es auch richtig, dass die Gewerkschaften hier in Straßburg demonstrieren, was sie getan haben.

Es zeigt, dass Europa politischer wird, dass die Diskussionen lebhafter werden, dass auch das Parlament als Ort der politischen Debatte wichtiger geworden ist. Das freut mich. Natürlich macht eine Demonstration ein schlechtes Argument jetzt nicht zu einem guten Argument, aber insgesamt wird dieser Prozess weitergehen, und das wird noch ein bisschen Zeit brauchen. Dennoch hoffe ich, dass am Ende eine gute Lösung steht.

Kolkmann: Vielen Dank für das Gespräch.