Savoir vivre

Von Stefanie Otto |
Zum Frühstück nach Saint-Jean, zum Shoppen nach Monaco und Dinner in Nizza - so präsentieren Boulevardmedien gerne das Leben an der Côte d'Azur. Anders sieht es hinter den Kulissen des Jetsets aus.
Um fünf Uhr morgens beginnt der Tag für Arnaud Allari. Der stämmige junge Mann ist Fischer in Saint-Jean auf der Halbinsel Cap-Ferrat und kommt jetzt am späten Vormittag von seinem ersten Fang zurück.

"Heute Morgen habe ich Langusten, Bärenkrebse und ein paar kleine Fische für die Suppe gefangen. Einige davon gehen hier an das Hotel "La voile d’or", ein paar an die Restaurants im Nachbarort. Und den Rest verkaufe ich an Freunde oder an Laufkundschaft im Hafen."

Von dem spärlichen Fang kann er sich und seine Familie jedoch nicht ernähren. Schon gar nicht hier in Saint-Jean an der Côte d’Azur, wo selbst alltägliche Lebensmittel ein Vielfaches des Normalpreises kosten. Deshalb hat er, wie viele seiner Fischerkollegen, mittlerweile zwei Jobs:

"Es gibt noch vier Fischer hier in Saint-Jean. Das ist nicht viel, ich weiß. Die Fischer sind weg, weil sie jetzt immer öfter für die großen Kreuzfahrtschiffe arbeiten, die täglich in der Nachbarbucht vor Anker gehen. Sie helfen beim Transport der Passagiere zum Ufer und zurück. Das wird nun einmal viel besser bezahlt."

Auf der gesamten Halbinsel Cap-Ferrat reiht sich eine luxuriöse Villa an die andere. Mehr als 500 Anwesen sind es mittlerweile. Im Schatten von Palmen, Oliven und Zitrusbäumen und diskret versteckt hinter hohen Mauern warten sie auf die Ankunft ihrer Besitzer. Viele Großunternehmer und Prominente verbringen hier ihre knappe Freizeit, darunter auch der Microsoft-Mitbegründer Paul Allen und der russische "Wodkakönig" Yuri Schefler.

Offiziell leben in der Gemeinde Saint-Jean Cap-Ferrat nur etwa 2000 Einwohner, davon hat die Hälfte jedoch nur ihren Zweitwohnsitz hier angemeldet. Jetzt in der Saison wächst die Zahl der Bewohner jedoch auf das Vierfache. Da ist es kein Wunder, dass die Natur irgendwann Schaden nimmt.

"Seit fünf Generationen betreibt unsere Familie Fischfang. Und das schon immer hier in Saint-Jean Cap-Ferrat. Ich würde das auch gern weiterhin machen, aber das Problem ist, dass es immer mehr Yachten gibt und damit immer mehr Bewegung im Wasser. Für die Fische ist das nicht gut. Die verschwinden immer mehr. Und für die Fischer ist das ein Desaster."

Schon als Arnaud noch gar nicht geboren war, gab es im Hafen von Saint-Jean viele Yachten. Deshalb wurde das Hafenbecken in den 70er-Jahren ausgebaut und den Ansprüchen der wachsenden Zahl von Freizeitseglern und Yachtbesitzern angepasst. Rundherum siedelten sich gehobene Restaurants und teure Boutiquen an. Am gegenüberliegenden Quai legt gerade so eine riesige Yacht an. Langsam und viel Wasser aufwirbelnd manövriert sie sich rückwärts auf ihren Liegeplatz zwischen einen klassischen Einmaster und ein amerikanisches Rennboot. Am Heck steht Erica Devoto und hilft beim Vertäuen des 27 Meter langen Ungetüms.

"Die Yacht ist aus Italien, aber die Besitzer kommen aus Irland. Sie sind Anfang Juli hierher gekommen um mit der Yacht für 20 Tage nach Kroatien zu fahren. Nächsten Monat kommen sie noch einmal. Dann fahren wir nach Korsika. Und sonst bleibt die Yacht hier im Hafen und wir machen unsere acht Stunden pro Tag von Montag bis Freitag. Es ist eher eine ruhige Yacht."

Dann muss Erica das Deck mit Süßwasser abspülen, um die Teak-Planken vom salzigen Meerwasser zu befreien. Die Italienerin ist erst seit diesem Frühjahr auf der Yacht. An ihren Tattoos und Piercings sieht man, dass Luxus sonst eher nicht ihr Fall ist. Auf der Suche nach dem Abenteuer und mehr Unabhängigkeit, ist die 24-Jährige hierher gekommen und hat auf Anhieb den Job gefunden. An Bord ist sie die "rechte Hand" des Kapitäns und kümmert sich um die Gäste. Wenn nicht viel zu tun ist, putzt sie auch die Küche und die Schlafzimmer. In Italien hatte sie schon ganz allein auf Yachten gearbeitet. Trotzdem hat der Job hier einen entscheidenden Vorteil.

"Ich verdiene hier das Doppelte dessen, was ich in Italien für die gleiche Arbeit bekommen würde, obwohl ich weniger zu tun habe als vorher. Es ist eben eine super reiche Gegend. Hier haben die Millionäre und Stars ihre Villen und Yachten, die unglaublich viel kosten. Und generell sieht man hier, dass mehr Geld im Umlauf ist als anderswo."

Das Geld geben die Teilzeitbewohner von Saint-Jean eher in einem der größeren Orte an der Côte d’Azur aus. Wenn man es sich leisten kann, fährt man zum Shopping mal eben mit der Yacht nach Monaco, zum Abendessen nach St. Tropez oder zum Feiern nach Nizza.

Wird Saint-Jean oft als Kronjuwel der Côte d’Azur gesehen, so könnte man das zehn Kilometer entfernte Nizza als das Aschenputtel der Region bezeichnen. In der Hauptstadt des Départements "Alpes-Maritimes" konzentriert sich nicht nur die Masse der Einwohner und Touristen, sondern auch der gesamte Verkehr, die Industrie und die Verwaltung. Bewegt man sich nur in der Altstadt und entlang der Strandpromenade, scheint es nicht, als ob in dieser Stadt 350.000 Einwohner leben und noch mehr Menschen arbeiten. Weiter draußen, wo Gewerbegebiete und heruntergekommene Wohnsiedlungen die Stadt säumen, sieht Nizza jedoch aus wie jede andere Metropole. Über eine Million Einwohner leben in diesem Ballungsraum, der zwischen Küste und Bergen wie eingezwängt wirkt. In einem der eher abgelegenen Viertel befindet sich auch Cédrics Imbiss.

"Ich glaube, Nizza ist die Stadt mit den meisten Pizza-Restaurants in ganz Frankreich. Genau deshalb bieten wir mittlerweile viele unterschiedliche Gerichte an, zum Beispiel die berühmte Socca. Das ist ein Pfannkuchen, der aus Kichererbsenmehl und Wasser gemacht wird. Man isst die Socca ganz frisch und heiß. Früher hat man sie einfach in Zeitungspapier gewickelt und dann im Gehen gegessen. Es ist eine Spezialität aus Nizza."

Cédric Tartaglieno steht hinter der Theke des Schnellrestaurants und schaut nach der Socca im Ofen. Der gebürtige Niçois scherzt ein wenig mit einem Kunden, der an einem der Stehtische wartet und nimmt schon die nächste Bestellung auf. Wie viele der Einwohner Nizzas hat er Vorfahren aus Italien, spricht aber kaum Italienisch.

Seit einem Jahr betreibt er zusammen mit zwei Kollegen den Imbiss "Pepe Pizza" an der stark befahrenen Avenue de la Californie. Er ist sichtbar stolz auf sein eigenes Geschäft. Es laufe sehr gut bisher, meint er. Das Angebot hat er der Kundschaft angepasst.

"Nizza ist ein melting pot. Hier leben viele Italiener, Afrikaner, Menschen aus dem Maghreb und aus der ganzen Welt. Nizza ist eine sehr kosmopolite Stadt. Das macht ihren Charme aus."

Noch im 18. Jahrhundert gab es an dem schmalen Küstenstreifen nur verschlafene Fischerdörfer. Heute ist die Côte d’Azur ein Ort des ständigen Kommens und Gehens. Zuerst kamen die Reichen und Adligen und errichteten ihre prunkvollen Villen. Dann mit der Erfindung des Massentourismus kamen auch die Normalverdiener, hauptsächlich Franzosen und Engländer und mit ihnen unzählige Hotels und Restaurants. Seit den Achtziger Jahren folgten immer mehr Saisonarbeiter und Migranten aus den ehemaligen französischen Kolonien dem Lockruf der azurblauen Küste. Angezogen von der süßen "art de vivre", suchen sie hier ihren Platz an der Sonne. Doch nicht jeder kann sich das Leben hier leisten.

"Das Leben hier wird einem nicht geschenkt. Besonders die Immobilien sind ungemein teuer. Ich glaube, Nizza ist die zweitteuerste Stadt nach Paris, was Immobilien angeht. Tja, und dann zahlen wir natürlich auch für die Lebensqualität, die Sonne, das Meer und das alles. Mit der Krise wird das Leben nicht nur hier, sondern in Frankreich allgemein schwieriger. Die Preise steigen, die Löhne sinken. Und dann gibt es wie in allen touristischen Orten Halsabschneider. Vor denen muss man sich halt in Acht nehmen."

Horrende Preise, misstrauische Mitmenschen und das ständige Verkehrschaos: Viele Bewohner der Küstenregion haben davon genug und wenden der Côte d’Azur nicht nur sprichwörtlich den Rücken zu. Günstigere Immobilien und eine eher unberührte Natur locken sie ins Hinterland in die sogenannten Arrière-Pays.

Vor der Bäckerei am Place Carnot sitzt Gabriel Dicristo und genießt die frische Briese, die vom Meer her weht. Der 56jährige ist eigentlich im Vorruhestand. Er arbeitet nur noch ab und zu, wenn bei seinem Freund in der Bäckerei ausgeholfen werden muss. Sonst sitzt er gern vor dem Laden und schaut den Kindern nach der Schule beim Spielen zu. Hier im beschaulichen Bergdorf Peille will er so alt werden wie seine Nachbarn, die oft sogar das Alter von 99 Jahren erreichen.

"50 Jahre lang habe ich in Nizza gelebt und gearbeitet. Aber vor sechs Jahren bin ich nach Peille gezogen, wegen der Ruhe und weil man hier noch mehr Zeit füreinander hat. Wie in allen großen Städten haben die Menschen in Nizza keine Zeit mehr, um miteinander zu reden, sich zu treffen und etwas zu erzählen. Und das hat mir gefehlt. Ich habe schon immer den Kontakt zu den Menschen geliebt."

Jetzt am Nachmittag kommt immer einer seiner besten Bekannten vorbei. Es ist Stéphane Sainsaulieu, der Bürgermeister von Peille. Um diese Zeit verlässt er das Rathaus, um zu seiner eigentlichen Arbeit in die Stadt zu fahren.
Seit 2008 ist Sainsaulieu im Ehrenamt für seine Gemeinde tätig. Eigentlich ist er Informatiker und leitet Fortbildungen in Sachen Datennetzwerke. Er lebt schon immer in Peille, arbeitet jedoch an der Küste. Er liebt sein Heimatdorf und er kennt alle Anekdoten aus dessen bewegter Vergangenheit. In 630 Metern Höhe auf einem Felsen gelegen und mit einer Wasserquelle versehen, diente Peille schon den Kelten und Ligurern als Zuflucht. Im Mittelalter war es eine florierende Stadt mit einem höheren Gerichtshof, reichen Handelsleuten und großen Besitztümern im Umland. Man baute Getreide, Gemüse und Oliven an. Doch dann begann der Aufschwung Monacos und damit die Abwanderung der Dorfbevölkerung. Heute wirkt Peille mit seinen verwinkelten Gassen, dicht gedrängten Häuschen und ausgetretenen Treppchen wie ausgestorben. Doch bis zum Ende seiner Legislatur 2014 hat der Bürgermeister noch einiges mit dem "village" vor. Denn seit einigen Jahren zeichnet sich eine Trendwende ab.

"Seit den Neunziger Jahren kommen viele wieder zurück ins Dorf, besonders wegen der Natur. Es ist sehr ruhig hier, man hört die Vögel zwitschern. Und der Vorteil ist, dass wir trotzdem nicht weit weg sind von Nizza und Monaco. Dort ist das Wohnen einfach zu teuer. Viele arbeiten also in der Stadt, fahren morgens weg und kommen erst abends wieder. Dadurch wird Peille immer mehr zur Schlafstadt, aber es gibt auch immer mehr Familien mit Kindern, die sich hier niederlassen."

Die Einwohnerzahl von Peille steigt seit einigen Jahren wieder. Das ist für Stéphane Sainsaulieu besonders erfreulich, weil es bis in die Achtziger Jahre immer abwärts ging. Nur 25 Kilometer sind es jeweils bis nach Nizza oder Monaco. Fast alle der 2200 Einwohner arbeiten dort. Stéphane Sainsaulieu hatte das Gefühl, sein Dorf unterstützen zu müssen. Mit mehr Kulturangeboten und Geschäftsmöglichkeiten will er seine Mitmenschen im Dorf halten und wieder einander näher bringen. Er engagiert sich rund um die Uhr, um es bei den Touristen bekannter zu machen und das Kulturerbe Peilles nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

"Die Côte d’Azur ist sehr bekannt und wird gut in den Medien vermarktet. Aber die Dörfer hier im Hinterland kennt kaum jemand, obwohl sie sehr schön sind. Zum Beispiel hat man hier diese atemberaubende Aussicht, dieses intensive Blau des Mittelmeers, das sich mit dem Himmel vermischt. Das sieht man nirgendwo besser als hier. Man kann die ganze Küste von Saint-Tropez im Westen bis nach Italien überblicken. Und wenn man sich umdreht, hat man das imposante Panorama der Seealpen und das Mercantour-Massif vor sich. Das gehört auch zur Côte d’Azur. Es sind nicht nur die Badeorte und die Strände. Man sieht dieses intensive Blau des Mittelmeers, das sich mit dem Himmel vermischt, jedoch nicht umgeben von grauem Beton, sondern in der grünen Natur."