Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"

Entwurzelte Generationen

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Buchcover: "Im Menschen muss alles herrlich sein" von Sasha Marianna Salzmann
Sasha Marianna Salzmanns „Im Menschen muss alles herrlich sein“: Ein grandioser Roman, sagt unsere Kritikerin. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Maike Albath · 20.09.2021
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Eine Generation hat die späte Sowjetunion noch erlebt, die andere wächst in Deutschland auf. Grund zum Klagen haben beide. Sasha Marianna Salzmann verknüpft zwei Mutter-Tochter-Gespanne zu einem lesenswerten poetischen Zeittableau.
Ein bisschen sind sie doch wie Matroschkas, diese russischen Puppen, die jede eine kleinere enthalten und alle gleich aussehen: Die Mütter und Töchter in Sasha Marianna Salzmanns mitreißendem Roman "Im Menschen muss alles herrlich sein" mögen einander verleugnen und sich fremd geworden sein, aber das Repertoire ihrer Gefühlsausbrüche ist identisch: Händeringen, Tränen, lautes Wehklagen.
Salzmanns Hauptfiguren haben allesamt mit Verlusten zu kämpfen. Die einen geraten zwischen die Mühlsteine eines Systemwechsels, die anderen müssen in der Bundesrepublik die Entwurzelung der Eltern verkraften.

So vielstimmig sich das Zeittableau auffächert, so packend ist der Stoff. Die Gnadenlosigkeit der späten Sowjetunion wird auf bedrängende Weise spürbar, wenn Lena in den Siebzigerjahren nicht mehr die Sommer bei ihrer Großmutter in Sotschi verbringen darf, sondern in die kollektivistischen Erziehungsmethoden eingegliedert und in ein Pionierlager verschickt wird.
Noch dramatischer ist die Erkrankung der Mutter, Abteilungsleiterin in einem Chemiewerk in Gorlowka, die nur durch Bestechung eine mehr als fragwürdige Behandlung erhält. Auch deshalb entscheidet Lena, Medizin studieren zu wollen. In der "Wolfszeit" der Perestroika kommt es aber dann kaum mehr auf ihre Leistungen an, sondern auf die richtigen Kontakte.
Spätestens an dieser Stelle klingt das Tschechow-Zitat "Im Menschen muss alles herrlich sein", das Salzmann als Titel wählt, in den Ohren der jungen Leute wie Hohn. Von Aufbruch und dem Streben nach Verbesserung, wie es bei diesem Ausspruch in der Sowjetunion mitschwingen sollte, ist nichts mehr übrig.

Effektvolle Dramaturgie

Salzmanns Heldinnen drohen immer wieder, von den Zeitläuften verschlungen zu werden: Die Ärztin Lena kann sich schließlich durch ihren jüdischen Ehemann nach Deutschland retten, aber ihr Vater hat kaum etwas zu essen, und ihre Freundin Tatjana wird Opfer eines deutschen Heiratsschwindlers.
Der effektvollen Dramaturgie des Roman-Gebildes merkt man Salzmanns Erfahrung als Theaterautorin an. Die Schriftstellerin, 1985 in Wolgograd geboren, arbeitet mit einem markanten Mutter- und Tochter-Doppelgespann: Mit den jungen Frauen Edi und Nina, die als Icherzählerin Zäsuren setzt, porträtiert sie ihre eigene Generation.

Eine ganz eigene Poesie

"Im Menschen muss alles herrlich sein" ist ein grandioser Roman. Die Geschichte hat vor allem im umfangreicheren ersten Teil eine enorme literarische Kraft, die Figuren sind lebendig und voller Geheimnisse, der Rhythmus stimmt.
Ein besonderes Gespür besitzt Sasha Maria Salzmann für die untergründigen Gefühlsströme in Beziehungen. Die Nähe zwischen Lena und ihrer Großmutter vermittelt sich ebenso wie das Harsche zwischen Mutter und Tochter, das sich bei Lena dann in panische Fürsorge verwandelt.
Und schließlich entfaltet Sasha Marianna Salzmanns Sprache eine eigene Poesie. Jemand bewegt sich mit "Wasserschwappschritten", der Regen kratzt "wie Tauben mit ihren verhornten Füßen am Fenster", und als Lena sich an eine Freundin erinnert, ist es so, als kippe jemand "Sägemehl in die Lunge".
Schöner kann man vom Schmerz um Verlorenes nicht erzählen.

Sasha Marianna Salzmann: "Im Menschen muss alles herrlich sein"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
384 Seiten, 24 Euro

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