Sanne de Wilde über "Die Insel der Farbenblinden"

"Farbe ist ein sehr philosophisches Konzept"

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Ein Foto aus der Arbeit "Die Insel der Farbenblinden" von Susanne de Wilde eine Boot vor einer Insel in einer ganz eigenen Farbgebung.
Sanne de Wilde will mit ihrer Arbeit auch unsere Sehgewohnheiten hinterfragen. © Sanne de Wilde
Sanne de Wilde im Gespräch mit Susanne Balthasar · 27.02.2021
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Viele Bewohner der Südseeinseln Pingelap und Pohnpei sind farbenblind. Die belgische Fotografin Sanne de Wilde hat sie und ihre Lebenswelt porträtiert. Mit den Bildern will sie sich von dem vorgefertigten Verständnis lösen, das wir von Farbe haben.
Grün ist die Farbe, von der wir die meisten Nuancen wahrnehmen können: dunkles Waldgrün, helles Birkengrün oder blaustichiges Türkis.
Besonders viele Grüntöne gibt es in der üppigen Natur der Tropen und das gilt auch für die Südseeinseln Pingelap und Pohnpei. Viele ihrer Bewohner können diese Grünpalette aber nicht wahrnehmen. Überdurchschnittlich viele leiden an Achromatopsie, also völliger Farbenblindheit. Wie sie die Farbenpracht ihrer Umgebung wahrnehmen, diese Frage war der Ausgangspunkt für das Fotoprojekt "Die Insel der Farbenblinden" der belgischen Künstlerin Sanne de Wilde. Was sie auf den beiden mikronesischen Inseln erlebt hat und was sie künstlerisch daraus gemacht hat, erzählt sie im Gespräch mit Susanne Balthasar.
Susanne Balthasar: Sanne, wie sieht es aus Ihrer Perspektive, der eines sehenden Menschen, auf Pingelap und Pohnpei aus? Was sieht man dort?
Sanne de Wilde: Wie sich die meisten vorstellen können, sind die Inseln Pingelap und Pohnpei sehr üppig und grün, es sind tropische Inseln und es gibt viel Sonne und das ganze Jahr über viel Regen, es soll weltweit einer der Orte mit dem meisten Niederschlag sein. Es gibt viele Palmen und exotische Pflanzen. Grün ist also die dominante Farbe, Grün und ein Hauch von Rot, denn viele Pflanzen und Blumen haben rote Blüten oder Früchte.

Intensives Farberlebnis trotz Farbenblindheit

Susanne Balthasar: Wie beschreiben die Menschen, die an völliger Farbenblindheit leiden, ihre Umgebung, sehen sie alles nur schwarz-weiß oder ist da noch ein bisschen Farbe?
Sanne de Wilde: Farbe ist ja ein sehr philosophisches Konzept. Denn wenn man wirklich darüber nachdenkt, weiß niemand, wie wir Farbe wirklich sehen. Ich weiß nicht, ob Sie Grün genauso sehen, wie ich es sehe. Und das gilt genauso für die Menschen mit Achromatopsie, bei denen die Farbrezeptoren im Auge nicht funktionieren und von denen man sagt, sie sähen nur Grauschattierungen und gar keine Farben.
Aber manche Inselbewohner beschreiben ein sehr intensives Erlebnis, wenn sie zum Beispiel einen hellen Sonnenuntergang sehen und sagen, sie würden in dem Moment Farbe spüren oder sehen. Farbe wird also mehr zu einem Erlebnis. Wie erlebt man Farbe, wenn Farbe nur ein Wort ist? Ein Wort, dessen Bedeutung sich ändern kann und damit auch alle Farben und alle Schattierungen von Grün.
Susanne Balthasar: Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass manche Bewohner angeben, Grün sei ihre Lieblingsfarbe. Wie kann das sein?
Sanne de Wilde: Es mag komisch sein, Menschen, die keine Farben sehen können, nach ihrer Lieblingsfarbe zu fragen, aber ich dachte, es ist eine wichtige und einfache Frage, denn auch wenn sie keine Farbe sehen oder sie anders wahrnehmen, erleben sie ja Farben, fühlen sie. Die Inselbewohner nannten oft Grün als ihre Lieblingsfarbe, das hat mit ihrer Liebe für ihre Umgebung zu tun, für die Inseln, auf denen sie leben. Grün ist eine Farbe, die sie immer umgibt, sie macht ihr Umfeld aus.
Susanne Balthasar: Welche Rolle spielen Farben für diese Farbenblinden, auch wenn sie die gar nicht sehen können?
Sanne de Wilde: Meine Erfahrung mit den Inselbewohnern ist, dass sie versuchen, sich anzupassen und sich selber trainieren, um in die Welt der Sehenden zu passen. Sie merken sich die Farben ihrer eigenen Kleidungsstücke und der Gegenstände in ihrer Umgebung und wollen auch die Augenfarbe ihrer Kinder wissen. Sie wissen all das, obwohl sie es nicht so sehen können wie jemand, der Farben wahrnimmt.

Wie die Farbenblindheit auf die Inseln kam

Susanne Balthasar: Wie kommt es denn eigentlich, dass so viele Farbenblinde auf diesen beiden Inseln leben?
Sanne de Wilde: Es gibt unterschiedliche Theorien, wie die Farbenblindheit auf die Inseln kam. Eine Theorie ist, dass der König einer der wenigen Überlebenden eines schweren Taifuns auf Pingelap war. Er trug das Achromatopsie-Gen in sich und als er und seine Königin die Insel wieder bevölkerten, breitete sich die absolute Farbenblindheit aus. Andere sagen, es könnte ein Walfänger aus Skandinavien gewesen sein, der die Krankheit mitbrachte, es gibt also unterschiedliche Geschichten.
Susanne Balthasar: Nun wollten Sie die Sicht der Farbenblinden in ihre Fotoarbeit mit einbeziehen, da liegen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ja nah, die gibt es auch, aber es gibt auch farbige Bilder, sehr farbige, ganz viel Rosa ist darauf zu sehen, vor allem bei den Pflanzen, aber auch Grün, Gelb und Blau, aber nie so wie wir, die Farbensehenden, es wahrnehmen, was sehr surreal wirkt. Wie sind diese Bilder entstanden?
Sanne de Wilde: Ich würde nie versuchen, mit den Augen eines anderen zu sehen, aber ich möchte mit meiner Arbeit eine Veränderung in der Wahrnehmung bewirken und hinterfragen, was Farbe ist und mit welchem Konzept von Realität und welchen Sehgewohnheiten wir aufwachsen und eine gewisse Vielfalt ausschließen.

Traumähnliche Bilder

Ich hatte eine Kamera mit der ich Infrarot-Bilder machen konnte. Das gab mir die Möglichkeit, mich anders mit Farbfotografie auseinanderzusetzen. Ich konnte damit die Beschaffenheit der Dinge neu entdecken, denn Infrarot kreiert nicht nur surreale Farben, sondern hebt auch die Struktur, die Tiefe hervor, unter anderem bei Bäumen, zum Beispiel bei den Palmen.
Ich hatte Glück, dass bei den Bildern viel Pink auftauchte, denn Pink ist eine meiner Lieblingsfarben. Ich wollte ein traumähnliches Bild schaffen, das die Menschen einlädt, die Welt durch andere Augen zu sehen und sich von dem vorgefertigten Verständnis von Farbe zu lösen.
Susanne Balthasar: Was war das Wichtigste, was Sie aus Ihrer Arbeit gelernt haben?
Sanne de Wilde: Mein Antrieb war und ist es auch meistens in meiner Arbeit, Menschen zu ermächtigen und nicht ein Bild von Menschen zu zeichnen, die eine bestimmte Erkrankung haben und deswegen weniger Möglichkeiten haben. Die philosophische Auseinandersetzung mit der Farbenblindheit ist ein Luxus, den ich mir leisten kann, weil ich in einer wohlhabenden Welt aufgewachsen bin, aber für die Menschen auf der Insel bedeutet Achromatopsie auch eine extreme Lichtempfindlichkeit, manchmal auch eine geringe Sehstärke, mit der sie täglich umgehen müssen.
Das beeinflusst ihr Leben viel mehr, als die Farbe Grün nicht so erleben zu können, wie andere es tun. Es bedeutet auch, giftige Pflanzen nicht von ungiftigen unterscheiden zu können oder auch, dass ihnen andere Fertigkeiten fehlen, die sie dann aber anders ausbilden. Sie können immer noch eine wichtige Rolle in der Gesellschaft einnehmen.

Mehr Fotos gibt es auf Sanne de Wildes Website

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