Sandro Veronesi: "Fluchtwege"

Die falschen Fehler gemacht

Der italienische Schriftsteller Sandro Veronesi
Der italienische Schriftsteller Sandro Veronesi © dpa / picture alliance / Claudio Onorati
Von Maike Albath · 23.04.2016
In wenigen Stunden entgleitet einem 51-jährigen Mann alles, worauf sich seine Existenz gründete: Sandro Veronesi liefert in seinem Roman "Fluchtwege" prägnante Psychogramme und Milieustudien aus dem Post-Berlusconi-Italien, das moralisch auf den Hund gekommen ist.
Sandro Veronesi ist in Italien ein berühmter Mann: Er zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern der mittleren Generation, sein Roman "Stilles Chaos" (2007) wurde von Nanni Moretti verfilmt, und er gehört zu den Gründern des unabhängigen Verlagshauses La nave di Teseo, das Umberto Eco Ende vergangenen Jahres aus Protest gegen den Verkauf von Bompiani noch kurz vor seinem Tod auf den Weg brachte.
In Deutschland hat sich Veronesi, 1959 in Florenz geboren und heute in Rom und Prato zu Hause, noch nicht durchgesetzt, was mit seiner sehr italienischen Mischung aus leichtfüßigem Gesellschaftsroman und sozialkritischer Bestandsaufnahme zusammenhängen könnte. Sein neuer Roman "Fluchtwege", der an "Stilles Chaos" anschließt, nimmt einen Autoverkäufer in der Krise in den Blick. Pietro Paladini heißt der 51-jährige Held und Ich-Erzähler, der sich in vertraulichem Ton an uns wendet und uns direkt anspricht. Binnen weniger Stunden entgleitet ihm alles das, worauf sich bisher seine Existenz gründete.
Paladini, früher Direktor eines Fernsehsenders in Mailand, war nach dem plötzlichen Tod seiner Frau mit der Tochter Claudia in seine Heimatstadt Rom zurückgekehrt. Weil es das Bequemste schien, stieg er in das Autohaus für Neu- und Gebrauchtwagen seines Studienfreundes Lello ein: Paladini verkaufte die Autos, wurden die Raten nicht gezahlt, zog sein Kompagnon sie wieder ein. Nur an diesem entscheidenden Julimorgen überträgt ihm Lello, der sich angeblich einer Bandscheiben-OP unterziehen muss, den Job. Die zahlungssäumige Besitzerin ist eine junge Frau, die sich als Begleiterin zwielichtiger Politiker über Wasser hält, in einem verwahrlosten Haus an einer Strandpromenade bei Ostia wohnt und vor Sexappeal platzt. Natürlich ist Paladini von ihr geblendet und lässt sich reinlegen – die Dame fährt ihm davon, er nimmt die Verfolgung auf, lässt sein Handy liegen, verliert den Führerschein, und als er in sein Büro zurückkehrt, hat die Finanzpolizei sämtliche Akten beschlagnahmt.

Rasanter Rhythmus, guter Plot

Von da an überstürzen sich die Ereignisse. Seine Tochter: nach Mailand abgehauen. Sein Partner: ein Krimineller. Seine Freundin Diana, eine tätowierte, blondmähnige Vorstadtbraut: Mit ihren Kindern vor ihrem drogensüchtigen Ex-Mann geflohen. Paladini selbst: in den Fängen rumänischer Passfälscher.
Sandro Veronesi versteht sein Handwerk: Sein kolloquialer Tonfall zieht den Leser sofort in die Geschichte hinein, Dialoge skandieren die Handlung, der Rhythmus ist rasant, der Plot gut konstruiert. Zwei, drei banale Pointen verzeiht man ihm, denn er liefert prägnante Psychogramme und Milieustudien aus dem Post-Berlusconi-Italien, das moralisch auf den Hund gekommen ist. Von seiner 18-jährigen Tochter gezwungen, muss sich Paladini mit den Eigenschaften der "seltenen Erden", wie auch der Originaltitel lautet, auseinandersetzen und seinen Lebenslügen auf den Grund gehen.
Eines der Motti, die jedem Kapitel voranstehen, bringt es auf den Punkt: "Ich habe die falschen Fehler gemacht". Es stammt von Thelonious Monk. "Fluchtwege" erzählt von dem prekären Gleichgewicht der Generationen. Und es ist ein Roman über das zeitgenössische Italien, der auf beiläufige und äußerst unterhaltsame Weise vermittelt, wie es um das Land bestellt ist.

Sandro Veronesi: Fluchtwege. Roman
Aus dem Italienischen von Michael von Killisch-Horn
Klett-Cotta, 412 Seiten, 22,95 Euro

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