Samuel Salzborn: „Kollektive Unschuld“

Konflikte mit der Vergangenheit

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Buchcover zu Samuel Salzborns "Kollektive Unschuld".
In "Kollektive Unschuld" weist Samuel Salzborn nach, dass geschichtsrevisionistische Positionen wie die der AfD nicht einfach so vom Himmel fallen. © Hentrich & Hentrich
Von Carsten Hueck · 23.03.2020
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Der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn knöpft sich in einem erhellenden Essay das Konfliktfeld zwischen Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit in Deutschland vor.
Deutschlands Erinnerungspolitik sei vorbildlich, das hört man häufig im In- und Ausland, der Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit und Shoah sei eine Erfolgsgeschichte. Nur wie, fragt sich da der naive Zeitgenosse, ist zu erklären, dass völkisches Denken derzeit selbst in den Parlamenten lautstark Ausdruck findet? Und dass Antisemitismus sich hierzulande seit längerem schon wieder unverhohlen und gewalttätig Bahn bricht?

Private und öffentliche Erinnerung

Fundiert spürt der 1977 in Hannover geborene Politikwissenschaftler Samuel Salzborn in seinem neuen Essay dieser Frage nach. Der Rechtsextremismusforscher erkundet in sechs Kapiteln das Konfliktfeld zwischen Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit. "Öffentliche und private Erinnerung an den Nationalsozialismus stehen immer wieder im Konflikt", konstatiert er.
In der Tiefe kollektiven Bewusstseins habe es eine umfassende Schulderkenntnis nicht gegeben. Bereits in der Nachkriegszeit habe die "Selbstviktimisierung" der Deutschen eingesetzt. Eine ganze Nation habe sich als Opfer Hitlers gefühlt. Verführt von einigen wenigen Nazis habe sie gelitten unter alliierten Luftangriffen und später der Vertreibung. Der historische Kontext dieser Erfahrungen sei jedoch ebenso ausgeblendet worden, wie die Auseinandersetzung mit eigenen Taten.
Salzborn gibt zahlreiche Beispiele für kollektive Schuldabwehr: durch Heimatidyllen im deutschen Film der 1950er-Jahre, völkische Brauchtumspflege in der Architektur, dem Festhalten an "deutschen" Tugenden, Integration von Nationalsozialisten in das neue bundesrepublikanische System. All das habe ausgeblendet, dass Täterbiografien in jeder Familie vorhanden waren – und es bis heute sind –, ohne, dass eine Auseinandersetzung damit stattfände. Wenn, dann diene die der Relativierung von Schuld, der Abwehr und Entschuldigung.

Sehnsucht nach Unschuld

Das macht dieses schmale Buch brisant: es weist nach, dass geschichtsrevisionistische Positionen, wie beispielsweise der AfD, nicht plötzlich vom Himmel fallen, dass Antisemitismus und Schlussstrichforderung in der Auseinandersetzung mit der Shoah nicht plötzlich artikuliert werden, sondern sich aus einer jahrzehntelangen Kontinuität der Verdrängung und Erinnerungsabwehr speisen – der anhaltenden Sehnsucht nach Unschuld.
Auch die jüngere Generation bediene sich vorhandener Muster. Salzborn verweist auf erfolgreiche TV- und Kinoproduktionen, in denen Deutsche als Opfer gezeigt werden, "Die große Flucht", "Der Untergang", "Die Gustloff" oder "Unsere Mütter, unsere Väter". Deutschen wird darin etwas angetan, eigene Taten werden verharmlost.
Und auch die heute so beliebte "Israelkritik" erweise sich bei genauem Hinsehen als "schuldabwehrende Täter-Opfer-Umkehr". Den Glauben an eine tatsächliche Aufarbeitung der Vergangenheit bezeichnet Samuel Salzborn als "die größte Lebenslüge der Bundesrepublik".
Der Essay verknüpft auf knappen Raum bekannte Informationen. Vielfach bezieht sich Salzborn auf die Publikationen anderer Autoren, knapp fünfzehn Prozent seines Buches sind Literaturangaben, die meisten davon allerdings zu eigenen Schriften. Seine Sätze geraten dem Autor dabei häufig zu lang, das ist schade, denn das Thema verdient eine möglichst breite Leserschaft.

Samuel Salzborn: "Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern"
Berlin/Leipzig, Hentrich & Hentrich Verlag, 2020
136 Seiten, 15 Euro

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