Saftgulasch und Sonnenschein

Von Victoria Eglau · 21.03.2013
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Colonia Independencia in Paraguay von deutschen Einwanderern gegründet. Bis heute leben hier viele Deutschstämmige, aber auch Neueinwanderer. Sie pflegen die Traditionen der alten Heimat - die Erinnerung an die NS-Jahre wird dagegen verdrängt.
"El Cacique", ein rustikal eingerichtetes Lokal mit Eckbank und gelb marmorierten Wänden. Ein bayerischer Privatsender beschallt die Gäste, von denen einige auf Deutsch, andere auf Spanisch plaudern. Es ist Mittag und der Wirt, ein großer, kräftiger Mann mit Drei-Tage-Bart und lässigem Freizeitlook, trägt Teller mit Schnitzel oder Pizza an die Tische.

"Mein Name ist Bernd Soter, ich bin Inhaber, zusammen mit meiner Frau, von dem Restaurant ‚El Cacique‘ in Independencia, das ist eine deutsche Kolonie in dem Department Guaira in Paraguay."

Colonia Independencia ist, streng genommen, keine deutsche Kolonie. Aber der Ort, knapp zweihundert Kilometer östlich von Asunción, Paraguays Hauptstadt, wurde 1919 von Deutschen gegründet. Bis heute leben hier viele Deutschstämmige, aber auch Neueinwanderer – wie Bernd Soter und seine Frau, beide Ende vierzig, die seit drei Jahren das Lokal "El Cacique" – "Der Häuptling" – betreiben.

"Wie heißt es in der Fernsehsendung – ‚Goodbye Deutschland‘ - und so sind wir halt nach Paraguay. Wenn man sich die Frage stellt: bleibt man in Deutschland? – man lebt ja nur einmal – dann kann man sagen: Europa? Europa kenn ich soweit, entweder aus dem Urlaub oder aus geschäftlichen Gründen. Und da haben wir gesagt, Europa kommt nicht in Frage. Was ist Paraguay? Kannten wir bisher auch nur vom Fußball. Schauen wir uns das mal an. Und da haben wir uns informiert – du, das liest sich nicht schlecht. Und so kamen wir nach Paraguay."

Die Soters sind zwei der schätzungsweise 11.000 Deutschen in Paraguay.

Nachdem der Wirt am Nebentisch auf Spanisch eine Bestellung aufgenommen hat, geht er in die Küche und setzt sich dann wieder.

Soter stammt aus der Nähe von Aschaffenburg, wo er zuletzt im Versicherungswesen tätig war. Vor zwei Jahrzehnten betrieb er schon einmal ein Restaurant: Gastronomie-Erfahrung, auf der er in Paraguay aufbauen konnte. Räucherfisch, Biergulasch und fränkische Schäufele gehören zu seinen Spezialitäten. Die Gäste: Paraguayer, Alt- und Neueinwanderer. Sechzehn, siebzehn Stunden arbeitet das Wirtsehepaar jeden Tag:

"Wenn wir arbeiten, dann wollen wir den Lohn dafür, aber wollen auf der anderen Seite auch keinen Stress. Weil der Unterschied zwischen Stress und viel Arbeit ist eben ein gewaltiger. Und Stress gibt’s hier nicht. Ich habe hier gar keinen Stress",

versichert Bernd Soter. Voraussetzung für den entspannten Arbeitsalltag ist allerdings auch eine gelassene Grundeinstellung. Denn in Paraguay, sagt der Wirt, funktioniere nicht alles so wie zu Hause.

"Dein Lieferant sagt, er liefert dir Bier. Und dann kommt er und sagt: Nee, heute haben wir keins, heute gibt es nur Wasser. Und dann liefert er halt nicht. Wenn du dich damit abfindest und das akzeptierst als landestypisch, eignest dir die gewisse tranquilo-Geschichte, alles ist ruhig, alles ist tranquilo, und mañana ist nicht unbedingt mañana, sondern vielleicht nächste Woche. Wir haben uns damit abgefunden. Ist vielleicht nicht schlecht, wenn man schon eine gewisse Gelassenheit mitbringt."

Die ersten deutschen Siedler bauten hier Wein an
Colonia Independencia hat rund 1500 Einwohner. Es ist ein Dorf ohne Kern, eine Siedlung, die sich kilometerweit an der Landstraße entlangzieht. Im Distrikt gleichen Namens leben gut 25.000 Menschen. Etwa ein Zehntel ist deutsch oder deutschstämmig. Colonia Independencia liegt am Fuß der sanft geschwungenen Ybytyruzú-Bergkette.

Die ersten deutschen Siedler, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg ihrer am Boden liegenden Heimat den Rücken kehrten und nach Paraguay auswanderten, bauten hier Wein an.

"Die ersten Einwanderer waren Schwaben, Badenser. Die Kolonisten haben Reben gepflanzt, weil viele von Deutschland kamen, von den Orten, wo Wein gemacht wurde. Der Hauptumsatz von Colonia Independencia war jahrelang die Weinproduktion. Der meistproduzierte Wein in Paraguay wurde hier gemacht. Das ging bis 1960, 70, und dann ging das langsam immer weiter zurück."

Das erzählt Miguel Huber, der nur wenige Schritte vom Restaurant "El Cacique" entfernt einen Laden besitzt. Huber verkauft heute kaum noch lokal produzierten Wein. Statt Trauben bauen die Landwirte in der Gegend jetzt Matekraut und Zuckerrohr an.

In dem kleinen Supermarkt mit der holzgetäfelten Decke hängen am schwarzen Brett Mitteilungen auf Deutsch: "Welpen zu verkaufen", und eine Einladung zum Fest der Evangelischen Kirchengemeinde. Miguel Huber tippt in seinem altmodisch möblierten Büro Zahlen in den Rechner. Er ist weißhaarig, trägt eine Metallbrille und ein hellgrau-weiß gestreiftes Hemd. Der 75-Jährige wurde in Paraguay geboren, ein sogenannter Altdeutscher. Nach Colonia Independencia kam Huber als Fünfjähriger mit seinen Eltern und Geschwistern. Zuvor hatte die Familie in der Hauptstadt Asunción gewohnt - nun wollte sich der Vater in dem Dorf, in dem bereits viele Deutsche lebten, eine neue Existenz aufbauen.

"Erst hat er als Aufseher in der Weinernte gearbeitet und in der Buchhaltung mitgemacht. Da hat er existieren können. Sieben Kinder, war schon hart. Meine ältesten Brüder, mit 13, 14 Jahren hat er sie weggeschickt, arbeiten bei anderen Bauern. Für uns war es ein hartes Leben. Aber wir wissen genau, die vor uns, die 1919 oder in den 20er-Jahren gekommen sind, dass das Leben für die noch viel härter war. Wir hatten schon ein Haus, kein Wasser und Strom, wo wir gewohnt haben."

Die braune Ideologie fiel auf fruchtbaren Boden
In Asunción war Miguel Hubers Vater bei der Zeitung "Deutsche Warte" beschäftigt gewesen – einem Blatt der Auslandsorganisation der NSDAP. Im neuen Wohnort, der Colonia Independencia, fand er viele Gleichgesinnte. Eher beiläufig sagt sein Sohn, dass damals die meisten Bewohner der Siedlung dem Nationalsozialismus anhingen.

Schon vor 1933 gab es dort eine Ortsgruppe der NSDAP, nationalsozialistische Jugendgruppen waren ebenfalls in Colonia Independencia aktiv. Bei den Deutschstämmigen in ganz Paraguay fiel die braune Ideologie auf fruchtbaren Boden. Dass nach dem Zweiten Weltkrieg Nazi-Verbrecher wie der KZ-Arzt Josef Mengele in Paraguay unterschlüpfen konnten, lag nicht zuletzt daran, dass sie hier hilfsbereite Landsleute fanden.

Heute spricht in Colonia Independencia keiner gerne über die Nazi-Vergangenheit – auch Miguel Huber nicht. Seit Jahrzehnten ist er Vertrauensmann der Deutschen Botschaft. Im vergangenen Jahr erhielt er die Bundesverdienstmedaille. Jetzt ist er unterwegs zur Deutschen Schule, die von Matthias Loidol geleitet wird, der 47 Jahre alt ist und in der Siedlung geboren wurde.

"Was man feststellen kann, konnte, über die Jahre hinweg, dass in den Köpfen unserer Einwohner hier, unserer deutschsprachigen Einwohner hier in Paraguay, Deutschland nicht zusammengebrochen ist. Wenn etwas zusammenbricht, muss man neu anfangen. Und das gab’s hier nicht. In den Köpfen der Leute lebte das über lange Zeit, das hat irgendwie weitergelebt",

schildert der Schuldirektor den Umgang seiner Landsleute mit der NS-Vergangenheit. In ganz Paraguay wurden nach dem Zusammenbruch von Nazideutschland 1945 deutsche Einrichtungen geschlossen, darunter auch die Schule von Colonia Independencia. Viele Deutschstämmige fühlten sich daraufhin als Opfer. Erst 1956, als bereits Diktator Alfredo Stroessner regierte, dessen Vater aus Bayern stammte, bekam Colonia Independencia wieder eine deutsche Schule.

Auf dem Hof des properen, weiß getünchten Gebäudes mit dem schwarzen Schieferdach genießt ein Teil der 150 Schüler die große Pause. Einige tragen Sportkleidung mit schwarz-rot-goldenen Streifen. Matthias Loidol sitzt am langen Tisch im Lehrerzimmer. Er hat in Paraguay studiert, aber kennt das heutige Deutschland – ein Jahr verbrachte er dort mit dem Pädagogischen Austauschdienst.

"Bis vor etwa drei, vier Jahren hatten wir eine Mehrheit der Schüler mit deutschsprachigem Hintergrund, Kolonisten-Kinder, wie man das hier so nennt. Die deutsche Sprache, die Phonetik hatten sie noch drin, aber den großen Wortschatz haben sie auch nicht mehr gehabt. Mit denen konnten wir dann problemlos arbeiten und darauf aufbauen. Das hat sich jetzt in den letzten zwei, drei Jahren geändert, so dass wir jetzt in der Vorschule nur noch einen einzigen haben, der wirklich von zu Hause aus Deutsch spricht. Das hat damit zu tun, dass auch hier, was eigentlich natürlich und gesund ist für eine Gesellschaft, dass wir viel mehr Mischehen haben, zwischen hauptsächlich deutschstämmigen Männern und paraguayischen Frauen."

Deutsche heirateten Deutsche, Mischehen gab es kaum
Loidol selbst war einer der ersten in Colonia Independencia, der eine Paraguayerin heiratete. In der Generation von Miguel Huber wäre das kaum möglich gewesen. Deutsche heirateten damals Deutsche oder Österreicher – aus der eigenen Siedlung oder einer anderen. Doch inzwischen gibt es auch in Hubers Familie Paraguayer.

"Ich hab’s schon lieber, wenn das wieder Deutsche sind – aber wir können das nicht aufhalten. Das ist halt der Lauf des Lebens. Wir haben uns ein bissel, manchmal sagen wir, zu sehr, abgesondert von den Paraguayern. Für viele Sachen, für die Wirtschaft, das politische Leben. Für unser Fortkommen ist es eigentlich auch besser, wenn wir uns ein bisschen mehr integrieren mit der ganzen Sache. Das kommt jetzt erst in den letzten Jahren mehr."

Doch auch wenn sich die Deutschstämmigen aus Colonia Independencia der Gesellschaft Paraguays langsam öffnen – bei ihren Festen hören sie immer noch am liebsten Musik aus der alten Heimat. Matthias Loidol, der Schuldirektor:

"Das erste, was so richtig hier angekommen ist aus Deutschland, also medienmäßig, bevor es das Satellitenfernsehen gab, waren Videos. Und zwar vom Musikantenstadl. Ich weiß, es ist zum Lachen, aber es ist so. Wir sind hauptsächlich Bauern, ein volkstümliches Volk sozusagen, und auch den meisten hier sagt Rock’n‘Roll gar nichts."

Mit dieser Art von Brauchtumspflege kann Julian Sandt wenig anfangen. Sandt, Anfang vierzig, kam vor eineinhalb Jahren nach Paraguay, um hier zu investieren. Der Mann mit der sportlichen Figur und den auffällig blauen Augen sitzt im Garten seiner Villa in der Hauptstadt Asunción. Das Gebäude im Kolonialstil hat Julian Sandt gerade zu einem Apart-Hotel ausbauen lassen. Der Investor hat außerdem ein Haus am Ypacaraí-See erworben, eine Autostunde von Asunción entfernt. Er plant weitere Immobilienprojekte und den Kauf von Land. Für Paraguay entschied er sich aus ganz nüchternen Gründen.

"Paraguay ist, glaube ich, das leichteste Land der Welt, wo man einwandern kann. Man bekommt sofort die lebenslange Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis. Genau wie ein Paraguayer könnte ich Unternehmen gründen, führen, besitzen, kann Immobilien kaufen, entwickeln. Es gibt hier zehn Prozent Steuern für Unternehmensgewinne. Es gibt zehn Prozent auch für Gehälter, aber für sehr hohe Gehälter. Für niedrige Gehälter null Prozent Steuern. Es gibt aber vor allem kein Welteinkommensprinzip. Das heißt, auf meine Aktivitäten außerhalb von Paraguay zahl ich null Prozent Einkommenssteuer",

nennt Sandt, der vorher in Singapur lebte, einige Vorteile, die der Standort Paraguay für ihn hat.

Paraguay ist ein Paradies für deutsche Rentner
Der Unternehmer bespricht sich mit dem Architekten, der die Pläne für sein Hotel entworfen hat. Arbeitskräfte sind in Paraguay billiger als in Deutschland – ein weiterer Pluspunkt für Sandt, genauso wie die niedrigeren Lebenshaltungskosten. Dass es in Paraguay weniger Geld kostet, zu essen oder ein Haus zu kaufen, ist für viele Deutsche ein wichtiger Einwanderungsgrund. Das Land gilt längst auch als Rentnerparadies, weil sich Senioren hier für ihre Euros mehr leisten können. Deutsche Zeitungen, deutsche Restaurants, deutsche Makler und Einwanderungsberater erleichtern den Neuanfang fern der Heimat.

Julian Sandts Spanisch hat einen unverkennbar deutschen Akzent, aber anders als viele Landsleute hat er die Sprache schnell und gut gelernt, weil er sie auch in seinem Privatleben spricht.
"Ich habe eine paraguayische Freundin, ich habe einige Freunde, das sind zum Teil Deutsche, zum Teil Paraguayer. Von daher fühle ich mich recht wohl her. Die Leute sind offen, man kommt recht leicht mit Leuten ins Gespräch. Bisher gefällt mir alles wunderbar, und ich habe überhaupt keine Pläne, hier wegzugehen."

Auch deshalb, weil der Investor die wirtschaftliche Entwicklung seiner Wahlheimat höchst optimistisch sieht. Sandt ist überzeugt, dass Paraguay, eines der ärmsten Länder Südamerikas, so wie im vergangenen Jahrzehnt auch künftig stark wachsen wird.

"Nicht nur für wenige Jahre, sondern für Jahrzehnte, nach meiner Ansicht. Weil, erstens mal, das Land ist groß, komplett landwirtschaftlich nutzbar. Es ist größer als Deutschland und hat nur sechs Millionen Einwohner. Die Bevölkerung wächst sehr stark, hat die höchste Geburtenrate von Südamerika, 3,8 Kinder pro Familie. Also der Ballungsraum Asunción wird sehr stark wachsen. Hinzu kommt, dass man jetzt erst anfängt, richtig Infrastruktur zu bauen. Das Potenzial wurde bisher kaum genutzt, weil die Regierungen bisher jahrzehntelang nicht sehr effizient waren, um das mal diplomatisch auszudrücken. Wenn sich das nur leicht ändert, von sehr schlecht auf mittelprächtig, wird das Land einen sehr großen Boom haben."

Ein Bäckermeister freut sich über niedrige Steuersätze
Mitten im lauten Zentrum von Asunción, in der Presidente Franco-Straße, hängt vor einem Geschäft ein ovales, schwarzes Schild. Darauf steht in weißer Schnörkelschrift "Deutsche Bäckerei Michael Bock".

Gerade kommt der Bäckermeister von einer Auslieferung zurück. Michael Bock – Ende fünfzig, groß, ergrauter Schnurrbart, Kapuzenpulli – setzt sich mit einem Milchkaffee an den kleinen Tisch in seinem Laden. Der joviale Schwabe lebt seit 22 Jahren in Paraguay.

"Ich bin eigentlich nur wegen der Steuern weg, weil ich nicht eingesehen habe, dass ich nur für den deutschen Staat arbeiten soll. Gut, ich habe gut verdient. Aber da kommt halt Ende des Jahres der Staat und den interessiert es nicht, ob du 10 oder 12 oder 14 Stunden, sondern der sieht, du verdienst so und so viel und dann gib mal deine Sachen her. Und das war eigentlich der Grund, weshalb ich ausgewandert bin. Paraguay war eigentlich rein zufällig."

Im Regal liegen Vollkorn, Roggen- und Fitness-Brote. In der Auslage locken Mandelbrezeln, Apfel- und Streuselkuchen. Alles kommt gut an bei der paraguayischen Kundschaft - der Laden brummt, Michael Bock liefert ins ganze Land. Seine einheimischen Mitarbeiter hat er angelernt, er selbst arbeitet nur noch vier Stunden täglich. Der Bäckermeister fliegt zwar jedes Jahr nach Deutschland, aber aus Paraguay, dem Land, in das ihn der Zufall verschlug, will er auf keinen Fall mehr weg.

"Ich liebe das Land, ja, und ich muss sagen, ich bin gerne hier. Mit 84 habe ich meine Mutter hierher gebracht. Die hat sich auch noch hier richtig wohl gefühlt. Hat an Demenz gelitten. Die wurde hier mehr als gut versorgt, und für mich persönlich war das eine Genugtuung. Wenn ich morgens aufwache, oder rausgehe, und ich sehe einen blauen Himmel, habe ich ein ganz anderes Lebensgefühl wie in Deutschland, wo alles grau in grau ist, und regnerisch. Das ist irgendwie das Schöne hier. Ich hab ein großes Haus, einen Pool – ich kann eigentlich alles machen. Ja, was will ich eigentlich mehr? Also ich muss sagen, das Land ist irgendwo fantastisch."
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