Sachsen-Anhalt

Hier gehe ich, ich kann nicht anders

Ein Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz
Er ging vorweg, doch heute kommt fast niemand mehr nach: Martin Luther als Denkmal auf dem Wittenberger Marktplatz © Hendrik Schmidt / dpa
Von Michael Frantzen · 15.04.2014
Ausgerechnet im Bundesland, in dem die Reformation begann, leben so wenige Protestanten wie nirgendwo sonst in Deutschland. Nur 14,6 Prozent der Bewohner gehören der evangelischen Kirche an.
Block: "Ja. Lassen Sie mich nachdenken. Diaspora?"
Kasparick: "Unser Professor hat immer gesagt: Die Leute haben vergessen, dass sie Gott vergessen haben."
Noack: "Wir machen jetzt ne sehr nüchterne und kritische Analyse."
Tun wir. In Sachsen-Anhalt. Dem "Mutterland der Reformation". Am besten da, wo alles begann.
Mors-Lamberti: "Heike Mors-Lamberti. Kantorin an der Stadtkirche."
Der von Wittenberg. Wenn Sachsen-Anhalt das Mutterland der Reformation ist, dann ist das mittelalterliche Gotteshaus im Herzen der Elbestadt die "Mutter-Kirche der Reformation". Martin Luther hat hier an die zweitausend Mal gepredigt. Heike Mors-Lamberti blickt von ihren Notenblättern hoch - und lächelt leicht gequält. Das Luthererbe ist zwar gut für den Nimbus: Ansonsten aber plagt sich ihr Chor mit den gleichen Problemen herum wie viele andere Chöre im Land der Frühaufsteher.
Mors-Lamberti: "Die Kantorei hat ordentlich Federn gelassen. So wie die Stadt Wittenberg auch. Seit 2000 sind 10.000 Einwohner weg. Und dementsprechend verkleinern sich auch die Chöre. Überaltern. Bei gut 60 Leuten sind noch zwölf Leute unter 55. Das ist jetzt bitter. Es ist musikalisch Potenzial da. Viel Erfahrung bei den Älteren auch. Aber die Kraft halt nicht mehr in den Stimmen. Sodass wir Oratorien eigentlich nur noch mit Aushilfen gestalten können."
Die gebürtige Düsseldorferin verzieht an diesem milden Herbstabend das Gesicht. So hatte sie sich das eigentlich nicht vorgestellt; als sie im September 2000 als Kantorin in der Stadtkirche anfing. Inzwischen ist sie um ein paar Erfahrungen reicher.
"Ich hab, als ich am Anfang hier war, nen Gospelchor gehabt. Da sind wir hier in den Bayer-Hof gegangen. Ganz heidnisch. Haben Gospels gesungen und Konfirmanden haben die Weihnachtsgeschichte gelesen. Es war proppenvoll. An Laufkundschaft. Und die haben gebannt zugehört. Die haben zum größten Teil zum ersten Mal in ihrem Leben die Weihnachtsgeschichte gehört. Sie wussten nicht, wer Maria ist, wer Josef ist."
Andere Mentalität andere Gepflogenheiten
Das kommt nicht von ungefähr. Sachsen-Anhalt ist Heidenland. Mehr als 80 Prozent gehören keiner Religion an. Ausgerechnet im Ursprungsland der Reformation leben so wenige Protestanten wie nirgendwo sonst in deutschen Landen. Gerade einmal 14,6 Prozent sind es noch. Dass auf absehbare Zeit wieder mehr Menschen in den Schoß der Kirche zurückkehren - daran glaubt hier so recht keiner - auch nicht Chormitglied Barbara Notnagel.
Die Schlosskirche in Wittenberg: Martin Luther schlug hier am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür.
Die Schlosskirche in Wittenberg: Martin Luther schlug hier am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Tür.© AP Archiv
Die Mittdreißigerin ist vor zehn Jahren berufsbedingt von Baden-Württemberg in die 47.000-Einwohner-Stadt gezogen. Anfangs hat sie sich in Wittenberg ein bisschen verloren gefühlt. Die andere Mentalität. Andere Gepflogenheiten. Über den Kirchenchor hat die Protestantin neue Leute kennengelernt; Freunde auch. Sie seien eine verschworene Gemeinschaft, meint sie bei der Chorprobe mit funkelnden Augen. Christ, noch dazu praktizierend; und dann auch noch im Kirchenchor - damit fallen sie aus dem Rahmen.
Notnagel: "Das merkt man auf Schritt und Tritt. Weil ich ja aus Baden-Württemberg komme, wo das Gegenteil der Fall ist: Da ist jeder in der Kirche, der nicht ausgetreten ist. Hier ist man sehr bewusst in der Kirche. Hier hab ich halt Menschen kennengelernt, die sehr bewusst auch sich christlich engagieren. Oder zu ihrer Kirche stehen. Und fühl mich auch mit dieser Form von Kirche sehr verbunden. Ich konnte da eigentlich nen ganz anderen Zugang entwickeln, als ich ihn früher hatte."
"Es gibt ja auch die Rede von der Minderheiten-Kirche."
Ergänzt Johannes Block, der in seinem grauen Nadelstreifen-Anzug wie ein Anwalt aussieht, sich bei näherem Hinsehen aber als Pfarrer der Stadtkirche entpuppt. Auch er ein West-Import: Geboren in Hameln; Studium in Heidelberg und Zürich; zum Schluss war der Assistent an der Universität in Leipzig. Bevor er vor zwei Jahren nach Wittenberg kam; dem "evangelischen Vatikan".
3800 Mitglieder zählt Blocks Gemeinde, Tendenz fallend. Wie viele davon regelmäßig zum sonntäglichen Gottesdienst kommen: Der aufgeschlossene Mitvierziger zuckt die Schultern. Hängt immer davon ab, wer sich gerade angesagt hat: Bei prominenten Gast-Predigern wie Wim Wenders, dem Filmemacher, können es schon mal 400 sein. In der Regel aber sind es nur 80. Meint der Pfarrer, bevor er aufspringt und sich vom Bugenhagen-Haus, dem ältesten evangelischen Pfarrhaus der Welt, auf den Weg macht zur Stadtkirche.
"Ich zeige ihnen die Baustelle. Das große Reformationsjubiläum 2017 steht vor der Tür. Die Kirche ist jahrzehntelang nicht saniert und restauriert worden."
Acht Millionen Euro soll das Ganze kosten, anderthalb Millionen muss die Gemeinde aus Eigenmitteln aufbringen. Ziemlich viel Geld; zu viel für eine Gemeinde in der Diaspora. Deshalb hat Johannes Block gerade 200 lutherische Gemeinden weltweit um Spenden gebeten. Auf dass das Gotteshaus in neuem Glanz erstrahlt.
"Das ist eine ganz besondere Aura in diesem Raum. Hier haben die ersten evangelischen Gottesdienste stattgefunden. Hier wurden die ersten evangelischen Lieder gesungen. Hier hat Martin Luther seine Bibelübersetzung vorgestellt und eingeführt."
Den Kirchen-Revoluzzer und den Gemeindepfarrer verbindet einiges - nicht nur derselbe Arbeitsplatz. Ihr Minderheiten-Dasein etwa. Luther hatte es anfangs mit der katholischen Allmacht zu tun, mit Papst und Kaiser; Block ein paar Nummern kleiner mit lauter Heiden.
"Natürlich ist es nicht einfach, wenn über Generationen Familien mit Kirche wenig Berührung haben. Mitteldeutschland ist ja nun wirklich Jahrzehnte auch in schwierigen Zeiten gewesen. Man kann auch sagen in zwei Diktaturen. Und da sind natürlich gegenüber der Kirche auch Vorurteile gewachsen. Einerseits der große Vorwurf: Kirche ist nicht wissenschaftlich. Es sei ein Hirngespinst. Dann einfach die große Berührungslosigkeit; dass man gar nicht weiß, welche Menschen in der Kirche engagiert sind. Und dann auf der dritten Seite auch eine totale Unberührtheit - mit dem kirchlichen Liedgut, mit der Liturgie; mit Gepflogenheiten."
Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28.8.1749 in Frankfurt am Main geboren. Das Foto zeigt ein Gemälde von Joseph Stieler aus dem Jahre 1828. Johann Wolfgang von Goethe zählt bis heute zu den größten Persönlichkeiten der Weltliteratur.
Johann Wolfgang von Goethe wurde am 28.8.1749 in Frankfurt am Main geboren. Das Foto zeigt ein Gemälde von Joseph Stieler aus dem Jahre 1828. Johann Wolfgang von Goethe zählt bis heute zu den größten Persönlichkeiten der Weltliteratur.© AP Archiv
"Hört, ihr Herrn und lasst euch sagen,
der Geist ist nicht mehr in Fesseln geschlagen.
Gedenket an Luther, den Ehrenmann,
der solche Freiheit euch wiedergewann."
(Johann Wolfgang von Goethe)
"Die unmittelbare Erfahrung: Wir haben nen Pfarrer oder Pfarrerin, die ist einfach für uns da, da können wir hingehen und im Pfarrhaus brennt noch Licht: Die verschwindet. Weil: Wenn man 15, 16 Gemeinden hat, kann man nur in einer Gemeinde wohnen."
Hanna Kasparick, die Direktorin des Prediger-Seminars in Wittenberg, sieht das mit Sorge. Was die Ausnahme sein sollte: In vielen Gemeinden in Sachsen-Anhalt ist es längst schon die Regel.
"Und man muss dann exemplarische Präsenz für die anderen Orte organisieren. Und das verlangt natürlich auch ein Umdenken von den Gemeinden, stärker von der Versorgungsmentalität hin zu der Mentalität: Gemeinde sind wir. Und es ist nicht nur eben der Pfarrer oder die Pfarrerin."
Fällt nicht allen einfach - das mit dem Umdenken. Kasparick, eine offen dreischauende Frau von Mitte 50, hebt die Hände. 48 Vikare – also angehende Pfarrerinnen und Pfarrer – bilden sie und ihr Team zurzeit aus. Immer in Blöcken von zehn Tagen, bevor die Vikare wieder in ihre Gemeinden zurückkehren, in die Praxis.
Die vier Landeskirchen Ostdeutschlands, die das Predigerseminar finanzieren und nutzen, brauchen Nachwuchs. In den nächsten Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand. Sprich: Jeder von Kasparicks Schützlingen kann davon ausgehen, dass er oder sie eine Stelle findet. Vor zehn Jahren sei das noch anders gewesen, erklärt die gebürtige Ost-Berlinerin in ihrem hellen Büro, von wo der Blick auf einen der verwunschenen Hinterhöfe der Stadt fällt. Eigentlich eine gute Nachricht. Doch die Leiterin des Prediger-Seminars verzieht unmerklich das Gesicht. Die Vikare machen sich weiter Sorgen; jetzt halt nur andere.
"Dass je kleiner die Gemeinden werden, hier und je stärker der demografische Wandel greift, damit auch ne gewisse Verunsicherung des Berufsbildes verbunden ist. Also was ist eigentlich mal meine Aufgabe? Wenn Gemeinden kleiner werden? Wenn Regionen auseinanderbrechen? Und das stellt auch sehr hohe Anforderungen an Pfarrerinnen und Pfarrer."
Zur Kirche fanden nur die wenigsten
Hanna Kasparick stammt aus einer Ostberliner Pfarrers-Familie. In der Endphase der DDR zog sie mit ihrem Mann in die Altmark, nach Osterburg. In die Provinz. Auch hier engagierte sie sich in der Kirche, zur Wendezeit auch politisch. Zusammen mit anderen gründete sie das Neue Forum, später saß sie im Kreistag als Fraktionsvorsitzende. Kein Einzelfall: Die Liste praktizierender Christen, die den Mut hatten, gegen Honecker und CO zu rebellieren, ist lang. In der Wendezeit, erinnert sich die Frau mit dem roten Haar und herzhaften Lachen, hätten etliche Osterburger bei ihr Rat gesucht; der Christin. Zur Kirche aber fanden nur die wenigsten.
"Es ist wichtig, dass es immer wieder Berührungspunkte gibt. Dass man merkt: Kirche - das ist nicht so irgendetwas wie nen Blinddarm, näh?! Kann man haben oder kann man nicht haben. Sondern: Das ist etwas, was mittendrin ist im Leben. Kirche und Glaube gehören mitten ins Leben. Sie können denken: Ach, na ja! War vielleicht gar nicht so verkehrt. Könnte man ja mal drüber nachdenken. Geh ich vielleicht mal ins Konzert. Oder mal in die Evangelische Akademie. Also so: Einfach Berührungspunkte schaffen, Schwellen erniedrigen - das ist die Aufgabe."
Schwellen überwinden, ganz pragmatisch - das ist auch ganz nach dem Geschmack von Axel Noack. Der Altbischof von Magdeburg lehrt Kirchen-Geschichte an der Universität in Halle an der Saale. Noch so eine wichtige Stadt für Protestanten in Sachsen-Anhalt. Der Pietist August Hermann Francke gründete hier Ende des 17. Jahrhunderts seine "Franckeschen Stiftungen".
Seitdem gilt Halle als Ausgangspunkt der sozial-humanistischen Bildung in Deutschland, wenn nicht sogar weltweit. Viel Historie also. Und so ist es auch kein Wunder, dass Noacks Sprechzimmer in einem Seitenflügel der aufwendig renovierten Stiftung untergekommen ist. Direkt unterm Dach. Seine Tür steht meist offen - dank einer ungeöffneten Bordeaux-Flasche. Letztere fungiert als Tür-Stopper. Ein Geschenk. Wein sei nicht so Seins, erklärt der Mann, der in zwei Jahren in Rente geht und dementsprechend "nichts mehr zu verlieren hat", wie er lachend meint. Auch in Glaubensfragen ist der Theologe flexibel.
Noack: "Die Jäger jetzt. Wir haben im November jetzt wieder die Jäger da. Da ist Halle mit vier Jagdgenossenschaften. Die kommen dann nach Metzlich, in das kleine Dorf, wo ich lebe. Die sind alle nicht in der Kirche oder ganz wenige davon. Aber: selbstverständlich in der Jägerzeitschrift: Gottesdienst für die Jäger. Das ist das, wo es sie betrifft."
Mögen andere sich auch fragen, ob ein Gottesdienst für Jäger, die gar nicht an Gott glauben, nur Folklore ist: Axel Noack ist das egal. Kirche muss da hin, wo die Leute sind. Er lacht. Wo andere den schleichenden Untergang des Protestantismus im Ursprungsland der Reformation heraufbeschwören, hält sich der Altbischof lieber an Monty Pythons Maxime: "Always look on the bright side of life".
Luther über alles
Immer schön positiv denken. Die Sache mit der Luther-Dekade beispielsweise: jedes Jahr ein neues Luther-Thema bis zum großen Jubiläum 2017, dem 500. Jahrestag des Thesenanschlags des Reformators an der Schlosskirche: Läuft doch ganz gut. All die Veranstaltungen, Lesungen, Konzerte. Luther über alles: Das gilt auch fürs "Rahmen-Programm". Es gibt Luther-Brot, Luther-Bier und in Wittenberg sogar einen Steuerberater, der mit dem Konterfei des Reformers wirbt - und dem Spruch: "Da wäre ich auch gerne Mandant".
Noack: "Mit so einem Luther: Da fahren die Leute drauf ab. Man merkt es mit dem komischen Plastikzwerg, den es in Wittenberg gab. Diesen Lutherzwerg. Da haben sich manche auch tierisch aufgeregt. Auch Theologen. Mein Freund Friedrich Schorlemmer. Und andere sagen: Na, lasst uns doch den Spaß. Und die Leute erreicht das! Wir können nicht von den Leuten absehen. Luther selbst hat gemeint: Man muss den Leuten aufs Maul gucken. Und die haben das in Wittenberg gut gemacht: Als da die 800 Zwerge auf dem Marktplatz standen, da haben se jeden Tag Luther gelesen. Die Leute haben ihre Freude dran gehabt. Ich sehe das ja auch: überall, wo ich in Deutschland hinkomm: Überall haben se einen gekauft. Da steht so ein Zwerg."
Bei Martin Mosebach steht garantiert keiner. Der konservative Büchner-Preisträger hat sich vor geraumer Zeit bei Axel Noack und anderen Protestanten unbeliebt gemacht. In seiner Hauspostille, der "Welt", schrieb er, dass:
"Der Protestantismus mit seinem Hang zur Säkularisierung fast notwendig zur Schwächung des Glaubens geführt hat. Sonst hätte der Kommunismus den Glauben dort nicht so nachhaltig zerstören können."
Dort - das ist für den von seinen Gegnern als "Turbo-Katholiken" Geschmähten Mosebach der gottlose Osten. Sachsen-Anhalt. Axel Noack macht in seinem Büro unterm Dach eine wegwerfende Handbewegung: alles Schnee von gestern. Der Vorwurf, wonach dem Protestantismus ein Hang zum Weltlichen innewohnt, ist genauso alt wie Luthers Thesen.
Noack: "Gerade die Protestanten sagen ja: Dein Christentum lebst du ja im Wesentlichen im Alltag. Im Beruf. Deshalb sage ich, wenn die alle sagen: Die sind gottlos hier im Osten. Da guckt mal nach Neapel. Das hab ich irgendwann gelesen: Da wird dir 14 Mal häufiger das Portemonnaie auf der Straße geklaut als in Halle. So! Dort sind sie alle in der Kirche. Also watt nützt das mir. Da sollen se mal ganz still die Klappe halten. Dann könnt ich eigentlich sagen: Da sind mir meine Gottlosen hier lieber."
Die 82 Prozent in Sachsen-Anhalt, die angeben, an keinen Gott zu glauben. Das eint sie mit den meisten Ostdeutschen. Laut einer Studie der Universität Chicago sind die neuen Bundesländer weltweit Spitzenreiter in Sachen Atheismus - mit steigender Tendenz: Seit 1991 ist der Anteil der Atheisten noch einmal um 3,5 Prozent gestiegen.
Noack: "Wir brauchen nicht alle Leute in der Kirche. Schön wär's natürlich. Die Kirche braucht Leute, weil wir auch Geld brauchen, keine Frage. Aber im Grunde genommen muss man auch sagen: wenn nen paar Fromme da sind: Das reicht auch für die anderen nen bissl mit. Die wenigen Frommen, die wir haben, die müssen wir bestärken: jawohl! Ihr tut einen Dienst für die Gesellschaft. Wenn ihr für die ganze Bande mit betet, wenn die noch im Bett liegt."
Für ihn muss niemand mitbeten: Jochen Sielaff ist Musikpädagoge beim "Humanistischen Regionalverband Halle". Und auch kein Langschläfer, wie der Musikliebhaber lachend meint, der im Laufe der Zeit über zweihundert Instrumente gesammelt hat. Diverse Zittern, Mandolinen, Gitarren. Viele davon hat er im Musikzimmer des Bürgerhauses, eines ehemaligen DDR-Bungalows am Rande der Stadt, untergebracht. Sielaff hat sich bewusst für die "Humanisten" entschieden - als "Interessen-Vertreter konfessionsloser Menschen". Quasi der Gegenentwurf zur Kirche.
"Was heißt Gegenentwurf? Wir sind eben der Gegenpol dazu."
Statt glauben will der Humanist es lieber wissen.
"Das liegt so in meiner Natur, dass ich generell alles hinterfrage. Man könnte es simpel an dem Beispiel festmachen: wenn man die Bibel sieht. Die ist niedergeschrieben. Also ist das schon wieder subjektiv, weil es niedergeschrieben ist. In jedem Fall spielt immer was Subjektives mit rein. Und da sollte man schon einige Sachen hinterfragen."
Rhein: "Man muss diese Entwicklung der De-Christianisierung Mitteldeutschlands über viele Generationen betrachten. Das ist nicht nur, wie viele meinen, ein Ergebnis der DDR-Politik."
Stefan Rhein, Direktor der "Stiftung Luther-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt" mit Sitz in Wittenberg.
"Sondern: Wenn man sich Untersuchungen genauer anschaut, beginnt dies schon Ende des 19. Jahrhunderts. Verstärkt durch den Nationalsozialismus. Und verstärkt natürlich auch durch die DDR-Kirchenpolitik. Wir sind quasi am Ende einer über hundertjährigen Geschichte. Das Christentum ist nicht in einer Generation zurückgedrängt worden, sondern in vielen Generationen."
Das Lutherhaus in Eisenach
Das Lutherhaus in Eisenach© dpa / pa / Hirndorf
Um Rheins Arbeitsplatz dürften die meisten ihn beneiden. Sein Büro in der Wittenberger Innenstadt liegt im "Lutherhaus", dem Wohnhaus des Reformers.
"Wir gehen jetzt in den ersten Stock. Über alte Treppen. Und an den alten Gemäuern vorbei. Im ersten Stock - da ist die Lutherstube. Dieser Raum hat sich nur ganz wenig verändert. In diesem Raum hat Luther seine Tischgespräche geführt."
Lange her. Wo sich heute bisweilen US-amerikanische Besuchergruppen in Truppenstärke drängeln, herrschte schon zu Luthers Zeiten reger Andrang. Der Reformer führte zusammen mit seiner Frau, Katharina von Bora, ein offenes Haus. Nach seinem Tod wurde daraus schnell ein Museum der besonderen Art.
Rhein: "Leute müssen hier auf den Ofen geklettert sein. Und haben sich ... hier sieht man zum Beispiel jemanden aus dem Jahre 1750. Der also seinen Namen mit Jahreszahl an die Decke geschrieben hat. Auf dass wir uns ewig an ihn erinnern."
Sich auf ewig erinnern - das tun viele Besucher auch an Martin Luther. Besonders die weiter Angereisten. Protestanten aus Schweden und Dänemark. Und tiefreligiöse Lutheraner aus den Vereinigten Staaten.
Rhein: Wenn ausländische Besucher zu uns kommen, dann sind sie zum einen sehr ergriffen von der Geschichte; von den Gebäuden, von der Botschaft der Kirchen und Museen. Auf der anderen Seite gibt es viele Nachfragen: Wie sieht denn das spirituelle, das religiöse Leben an den Lutherorten aus? Es ist für viele Ausländer nur schwer nachzuvollziehen, dass Luthers Heimat zu den säkularisiertesten Gegenden gehört. Dass man in Luthers Heimat die biblische Botschaft oft nur vergangene Realität ist.
//"Dank, Luther, Dank! Du lehrtest jeden
mit Gott in deutscher Sprache reden.
Doch hat uns unter deinem Schilde
Gebracht die Philologen-Gilde
Zu ihrem eignen Preis und Ruhm
Ein protestantisch Heidenthum."//
(August Heinrich Hoffmann von Fallersleben)
"Luther - eine feste Burg" - dieses evangelische Kirchenlied darf nicht fehlen, bei der Chorprobe der Stadtkirchen-Gemeinde, die sich langsam dem Ende zuneigt. Es ist Abend geworden. Im Katharinen-Saal müht sich der Chor, den richtigen Ton zu finden, brütet am anderen Ende des Hinterhofes Johannes Block im Pfarrhaus über den Akten. Es wird ein langer Abend für ihn. Aber irgendjemand muss es ja machen. Der Pfarrer lächelt. Nur nicht verzagen - darin sind der Geistliche und die anderen hier geübt - trotz aller Hiobsbotschaften über das ach so gottlose Land Luthers. Aber das wird schon. Schließlich ist Luther zeitgemäßer denn je. Findet Gottes Hirte.
Block: "Das halte ich für eine große Chance der protestantischen Kirche in dieser Zeit: Dass es nicht um einen Verein geht. Oder eine Institution. Sondern um den Glauben und die Seele des Einzelnen geht. Das bringt uns nur Vorteile in einer Zeit, in der es sehr um Freiheit, um Freizeit, um Individualität geht."
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