Sachbuch

Wie die Psychiatrie entstand

Im Psychiatriemuseum Riedstadt ist ein medizinisches Modell in Form eines halben, geöffneten Kopfes zu sehen.
Schwachsinnig - oder einfach krank? © dpa picture alliance/ Nicolas Armer
Von Susanne Billig · 08.10.2014
Aus einem humanistischen Impuls heraus entstand die Psychiatrie und es war ein weiter Weg, bis sie schließlich als ernsthaftes Fach anerkannt wurde. Diesen Weg zeichnet Dieter Geyer nach - zu Beginn durchaus lesenswert, doch am Ende erschließt sich dem Leser rein gar nichts mehr.
"Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben, ausgestorbene Gefängnisse, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen."
Im späten 18. Jahrhundert wandte sich mit dem Anatom, Gynäkologen und Augenarzt Johann Christian Reil einer der ersten Mediziner den "Blöd- und Schwachsinnigen, Irren und Idioten" zu, die zu jener Zeit in düsteren Verliesen und Armenhäusern vor sich hin vegetierten. Wie sich aus dem humanistischen Impuls einiger Wenige ein etabliertes Fachgebiet herauskristallisierte, das zeichnet der Historiker Dietrich Geyer in seinem neuen Buch "Trübsinn und Raserei" minutiös nach.
Dabei folgt der Autor vor allem den biografischen Spuren der frühen Psychiater, schildert ihren Kampf um Anerkennung in der Zunft und bei den Obrigkeiten, ihre Versuche, die vielgestaltigen Phänomene der geistigen Umnachtung konzeptuell in den Griff zu bekommen und ihre teils rührend, teils entsetzlich anmutenden Vorstellungen davon, wie eine angemessene Unterbringung psychisch Kranker aussehen könnte. Dabei changierten ihre Vorstellungen zwischen Gartenparadiesen mit lieblichen Wasserspielen und massivem technischen Arsenal, um Wütende zu bändigen, auf Stühlen zu fixieren, ihnen verschiedenste Schmerzen zuzufügen und sie erneut hinter Gitter zu bringen.
Ein Buch mit Längen
Gegen Ende des Buches begibt sich der Autor zunehmend in die Vogelperspektive, findet - spannend zu lesen - in den Revolutionsjahren von 1848 die Anfänge der Massenpsychologie, wenn psychiatrische Schriften den "politischen Wahnsinn" als Form kollektiven Irrewerdens zu deuten versuchen, und skizziert im letzten Kapitel schließlich, wie die vielen Suchbewegungen der frühen Psychiatrie das heutige Aussehen des Fachgebietes prägten.
Wenn "Trübinn und Raserei" dennoch Längen aufweist, so liegt es daran, dass Dietrich Geyers Text die Geschlossenheit fehlt. Hochinteressante Einblicke in die psychiatrische Theoriebildung vermengt er mit nebensächlichen Details aus dem Privatleben der porträtierten Ärzte, springt - weil er den Lebensgeschichten der Mediziner folgt, anstatt der Konzeptualisierung des Fachgebietes - in der Chronologie hin und her und lässt die Fülle seines Materials auf seine Leser niederprasseln, anstatt es einem überzeugenden Leitgedanken unterzuordnen. Dazu kommt die nicht immer stilsichere Sprache, die deutlich von den verschraubten Formulierungssperenzchen seines Untersuchungszeitraums infiziert ist.
Die letzten Seiten seines Buches gehen leider vollends in einer deplatzierten Ironie unter, wenn der Autor spitzbübisch in alle Richtungen austeilt - die Antipsychiatriebewegung kriegt ebenso ihr Fett weg wie die aktuelle Hirnforschung, die Sozialpsychiatrie der 1970er Jahre wird mit dem gleichen spöttischem Kommentar bedacht wie das "wachsende Heer von Therapeuten aller Art", das in heutigen Kliniken verkehre. So erschließt sich am Ende dieses durchaus lesenswerten Buches leider gar nichts mehr.

Dietrich Geyer: Trübsinn und Raserei. Die Anfänge der Psychiatrie in Deutschland
Beck Verlag, München 2014
352 Seiten, 29,95 Euro