Sachbuch

Von Clans und Kalifen

Erdöltanks bei Yanbu in Saudi-Arabien.
Erdöltanks bei Yanbu in Saudi-Arabien © picture alliance / dpa / Mehmet Biber
Von Anne Francoise Weber · 07.11.2014
Anschaulich und überzeugend: Die "Geschichte der arabischen Völker" von Albert Hourani ist ein Standardwerk fürs breite Publikum, jetzt hat es der Politologe Malise Ruthven fortgeschrieben. Auch für die Islamwissenschaftlerin Johanna Pink ist Hourani ein Vorbild.
Seit ihrer Erstveröffentlichung auf Englisch im Jahre 1991 ist die "Geschichte der arabischen Völker" ein Standardwerk von Oxford-Professor Albert Hourani – ausdrücklich für ein breites Publikum bestimmt. In gut lesbarer Sprache, kaum durch Fußnoten belastet, aber doch mit einer umfangreichen Bibliographie versehen, schreibt er nicht nur von Kriegen und Herrschern, sondern richtet den Blick immer wieder auf soziale und demographische Gegebenheiten.
Zur Entstehung und Ausbreitung des Islams bleibt der in Manchester aufgewachsene Sohn eines protestantischen Baumwollhändlers aus dem Libanon wohlwollend distanziert:
"Einige nichtmuslimische Wissenschaftler (…) sagen, der Koran enthält wenig mehr als Entlehntes jener Vorstellungen und Ideen, die Muhammad in seiner Zeit und an seinem Ort zugänglich waren. Wer das behauptet, missversteht jedoch, was Originalität bedeutet: Was immer von der religiösen Kultur der damaligen Zeit Übernommenes war, wurde so abgewandelt und umgeformt, dass für alle, die die Botschaft annahmen, die vertraute Welt neu erschaffen war."
Das Clandenken als wichtigster Wesenszug arabischer Gesellschaften
Von der frühen Zeit des Islams aus führt er bis in die 1990er-Jahre, immer von einem Land zum nächsten springend und dabei Gegensätze und Gemeinsamkeiten hervorhebend.
Eine wichtige Referenz sind für ihn die Schriften Ibn Khalduns, eines aus Tunesien stammenden Gelehrten aus dem 14. Jahrhundert. Er machte das Clandenken, arabisch: "asabiya", als wichtigen Wesenszug arabischer Gesellschaften aus. Hourani zeigt, wie diese auf Machterhalt zielende Solidarität auch am Ende des 20. Jahrhunderts die herrschenden Gruppen der verschiedenen arabischen Länder kennzeichnete.
"In Algerien, Tunesien und im Irak handelte es sich dabei um die Solidarität innerhalb einer Partei. In anderen Ländern war es die einer Gruppe von Politikern, die ihre engen Beziehungen in der Jugend oder durch gemeinsame Erfahrungen geknüpft hatten, zum Beispiel die Militärs in Ägypten und in Syrien.
Auch eine Herrscherfamilie konnte der feste Kern sein, um den sich die Anhänger scharten, die verwandtschaftliche Beziehungen oder gemeinsame Interessen verbanden."
Seit Albert Houranis Tod im Jahre 1993 hat sich in den arabischen Ländern nun so viel getan, dass eine Aktualisierung unabdingbar war, wollte man den Klassiker nicht in Bibliotheken verstauben lassen. Der britische Publizist Malise Ruthven hat daher das Buch fortgeschrieben.
Auch ihm gelingt es, die komplexen Entwicklungen der letzten 20 Jahre knapp zusammenzufassen und größere Linien aufzuzeigen. Wie bei seinem Vorbild Hourani fehlt dann manchmal eine interessante Jahreszahl oder ein Name, doch die Sprache und Analysemuster sind ebenso verständlich und überzeugend.
Das Aktualisierte ist nicht mehr aktuell
Ruthven greift ebenfalls auf das Konzept des Clandenkens von Ibn Khaldun zurück und zeigt, wie traditionelle Formen der Solidarität mit wachsendem Abstand von der Kolonialherrschaft wieder erstarken konnten:
"Europäische Einflüsse brachten neue Werte und Institutionen, denen es jedoch an Legitimation fehlte – auch und gerade weil sie nicht aus einheimischen Traditionen hervorgingen. Die formalen staatlichen Strukturen, die weitgehend auf europäische Erfahrungen zurückgingen (wie Parlamente, politische Parteien und zivilgesellschaftliche Institutionen westlicher Prägung) wurden schon bald von mächtigeren sozialen und politischen Kräften untergraben."
Zu diesen Kräften zählen vor allem die islamistischen Bewegungen, deren Einfluss bis heute in der ganzen Region ausgehandelt wird – sei es durch Wahlen, Demonstrationen oder Terroranschläge und Kriegshandlungen.
Hier zeigt sich die einzige Schwäche dieser Neuausgabe. Das Aktualisierte ist nicht mehr aktuell. Zahlenangaben mit dem Stand des Jahres 2012 sind überholt. Der "Arabische Frühling", im Untertitel noch erwähnt, scheint 2014 schon wieder Geschichte.
Eine Flut an Fakten verständlich präsentiert
Cover - Johanna Pink: "Geschichte Ägyptens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart"
Cover - Johanna Pink: "Geschichte Ägyptens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart"© C. H. Beck Verlag
Aktueller ist da die Geschichte Ägyptens, die die Freiburger Professorin für Islamwissenschaft Johanna Pink vorlegt. Da sie die pharaonische Epoche des Landes für "hinlänglich präsent" hält, beginnt sie mit der Spätantike und spannt den Bogen bis zum Amtsantritt von Präsident Abdel Fattah al-Sisi im Juni 2014.
Die Flut der Fakten, Daten und Namen von Kalifen, Wesiren, Sultanen und Präsidenten präsentiert sie sehr verständlich. Vor allem aber verlässt sie immer wieder die chronologische Darstellung, um wichtige Themen zeitübergreifend zu behandeln.
Kapitel über Landwirtschaft, Juden und Christen, über Kairo, Sklaverei, die Muslimbruderschaft oder – zuletzt – das Militär ermöglichen ein besseres Verstehen grundlegender Entwicklungen. Da erfährt man zum Beispiel im Kapitel über Frauen und Männer:
"Der Aufbau eines Nationalstaats, der unter Muhammad Ali begann, und die Abschaffung der gesellschaftlichen Grundeinheit des erweiterten Haushalts zugunsten einer Kleinfamilie nach europäischem Vorbild schränkten die Spielräume von Frauen deutlich ein. Dies geschah zum Beispiel durch Staatsbürgerschaftsgesetze, die die Frau – wie in allen damaligen Staaten Europas – als Anhängsel ihres Vaters oder Ehemannes definierten. (…) Diese Restriktionen fielen zusammen mit den weiterhin bestehenden Benachteiligungen durch das islamische Familienrecht."
Ein informatives und gut lesbares Buch
Die Ereignisse von Weitem nicht der erste Umsturz in der ägyptischen Geschichte. Neu daran war der Ruf nach individueller Freiheit. Doch mit dem Abstand von über drei Jahren blickt die deutsche Wissenschaftlerin Pink noch skeptischer auf die Folgen als der britische Publizist Ruthven:
"Im Ergebnis trug der Aufstand von 2011 nicht zum Sturz, sondern zu Stabilisierung eines wankenden Regimes bei. Dieses Regime kennt nun jedoch die Macht der Straße, die zu unterschätzen schon die Briten teuer zu stehen kam."
Glossar, Zeittafel, mehrere Karten sowie Sach-, Personen- und Ortsregister runden dieses überaus informative und gut lesbare Buch ab.

Albert Hourani: Die Geschichte der arabischen Völker. Weitererzählt bis zum Arabischen Frühling von Malise Ruthven

Aus dem Englischen von Manfred Ohl,

Hans Sartorius und Michael Bischoff

S. Fischer Verlag, Frankfurt 2014

704 Seiten, 34,00 Euro

Johanna Pink: Geschichte Ägyptens: Von der Spätantike bis zur Gegenwart

C.H. Beck Verlag, München 2014

304 Seiten, 16,95 Euro