Sachbuch

Utopie für die Wohlstandsgesellschaft

Jeremy Rifkin
Jeremy Rifkin © dpa / picture alliance / Chema Moya
Von Arno Orzessek  · 12.08.2014
Neue Produktionsmöglichkeiten und exponentiell steigende Effektivität: Der populäre Ökonom Jeremy Rifkin zeichnet das Bild einer kommenden Überfluss-Gesellschaft. Doch die weniger glücklichen Seiten des Lebens blendet er aus.
Was die nächsten zwei, drei Jahrzehnte der Menschheit angeht, sieht Rifkin Gewaltiges kommen: Der alte Kapitalismus höhlt sich durch steigende Effizienz selbst aus, vor allem unter dem Einfluss des "Internets der Dinge", jener digitalen, auf Optimierung zielenden Zusammenschaltung aller wesentlichen Apparaturen der Zivilisation, die es in Ansätzen bereits gibt. Die nötige Energie liefern dezentrale Kraftwerke, zumal Sonnen-Kollektoren, die dank exponentiell steigender Effektivität in der Photovoltaik jegliche Knappheit vergessen machen. Allerorten verschaffen leistungsfähige 3-D-Drucker Produktionsmöglichkeiten für jedermann, worüber Konsumenten zu "Prosumenten" werden. Die Grenzkosten für die meisten Güter tendieren irgendwann gegen null.
Die Menschen indessen werden, weil es von allem reichlich gibt, materiell anspruchsloser. Sie organisieren ihre Belange zunehmend in einer (von der traditionellen Allmende abgeleiteten) "kollaborativen Commons"-Sphäre zwischen Staat und altem Kapitalismus, der zwar nicht ausstirbt, aber als planetarisches "Paradigma" den Commons weicht. In der neuen, arbeitsarmen, eher auf Teilen als auf Besitz gegründeten Überfluss-Gesellschaft widmet sich der "Homo sympathicus" dem, was wirklich glücklich macht: dem geselligen Miteinander. Und er kümmert sich um den Erhalt der beschädigten Biosphäre.
Zu schön, um wahr zu sein
Das klingt zu schön, zu einfach, um wahr zu sein. Zumal Rifkin die Heraufkunft des goldenen Zeitalters nur von zwei Risiken bedroht sieht: Erderwärmung und Cyber-Terrorismus, der etwa in den USA durch Lahmlegen der Stromversorgung binnen kurzem Hungersnöte und Gewalt auslösen könnte. Dass China, Indien, Afrika und auch Südamerika (mehr als fünf Milliarden Menschen) unerwähnt bleiben, verrät: Rifkin versammelt in seiner lichten Utopie die besten technischen, organisatorischen und menschlichen Potenziale westlicher Wohlstandsgesellschaften. Politik, Krieg, religiöser Fundamentalismus, Ausbeutung, Ungerechtigkeit, die Persistenz der Global Player und die Macht der Finanzwirtschaft: alles nicht Rifkins Thema.
Warum man das Buch trotzdem mit - ein bisschen - Gewinn lesen kann? Weil es den Möglichkeitssinn schärft. Weil es andeutet, wo der alte Kapitalismus brüchig geworden ist (vgl. die deutschen Energiekonzerne seit der Energiewende). Weil Rifkin sich traut, ein konkretes Bild der Zukunft zu zeichnen. Sein Buch ist oft ein Wunschpunsch - aber ein appetitlicher, tauglich zur raschen Erfrischung in defätistischer Zeit. Besoffen vor Zuversicht wird man indessen nicht. Dafür ist der Stoff zu dünn.

Jeremy Rifkin: Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft
Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus
Aus dem Englischen von Berhard Schmid
Campus Verlag
538 Seiten, 27 Euro

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