Sachbuch

Schicksal eines Berufskillers

Von Winfried Dolderer · 16.04.2014
Das spannende Buch über den Nürnberger Henker Schmidt offenbart das gewaltvolle Durchgreifen der damaligen Staatsgewalt. Er zeichnet das anrührende Schicksal dieses zerrissenen Mannes nach, der sich zu seinem Beruf gezwungen sah.
Schon auf der ersten Seite findet sich der Leser mitten im Getümmel eines Novembertages 1617. Die Nürnberger sind scharenweise auf den Beinen in der Erwartung eines nicht alltäglichen Spektakels. Für "Meister Frantz", den Vollstrecker, ist es der Tag, an dem sich seine Laufbahn dem Ende zuneigt. Doch ausgerechnet die letzte große Amtsverrichtung, die öffentliche Verbrennung des Falschmünzers Georg Karl Lambrecht, läuft nicht nach Plan. Lambrecht überlebt den Versuch, ihn auf dem Scheiterhaufen diskret zu erdrosseln, und so ist noch eine ganze Weile sein Gekreisch aus den Flammen zu hören.
Bis zu diesen Tag hatte Schmidt in 45 Jahren zunächst als freischaffender Henker, dann als hauptamtlicher Nürnberger Scharfrichter 394 Menschen mit dem Strick, dem Schwert, dem Rad, durch Ertränken oder Verbrennen umgebracht. Weitere 384 hatte er ausgepeitscht, ihnen Finger oder Ohren abgeschnittenen oder Augen ausgestochen. Gruselige Bilanz eines Berufslebens, über die wir deswegen so genau Bescheid wissen, weil Meister Frantz minutiös Buch geführt hat.
Das Tagebuch des Nürnberger Scharfrichters ist in fünf Abschriften überliefert. Es erschien zunächst 1801, ein weiteres Mal 1913 im Druck. Harrington, Professor an der Vanderbilt-University in Nashville und Experte für deutsche Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit, hat es beim Stöbern in der lokalgeschichtlichen Ecke einer Nürnberger Buchhandlung entdeckt. In der Stadtbibliothek stieß er auf eine bisher unveröffentlichte Abschrift, die älteste überlieferte aus Schmidts Todesjahr 1634, die von späteren Versionen in wesentlichen Punkten abweicht. Im österreichischen Staatsarchiv fand sich eine Bittschrift Schmidts an Kaiser Ferdinand II. mit ergänzenden persönlichen Angaben. Auf dieser Grundlage ist es Harrington gelungen, das seit langem bekannte Tagebuch erstmals als sozialhistorische Quelle auszuwerten.
Von Gewalt erfüllte Welt
Es ist eine von Gewalt erfüllte, heutigen Europäern gottlob fremde Welt, in die uns die Lektüre versetzt. In der eine unnachsichtige Justiz schon minderjährige Rückfalltäter mit dem Tod bestrafte. Der jüngste Delinquent, den Schmidt wegen Diebstahls aufhängte, war nicht älter als 13 Jahre. Eine Welt, in der die Humanisierung des Strafvollzugs darin bestand, junge Kindsmörderinnen nicht zu ertränken, sondern zu köpfen. In der verurteilte Verbrecher vor Dankbarkeit überströmten, wenn sie sterben durften, bevor ihnen der Henker mit dem Rad die Knochen brach.
Schmidt lebte und wirkte in einer Epoche, die Historikern als "das goldene Zeitalter des Scharfrichters" gilt. Die Obrigkeiten in den frühmodernen Territorien des 16. Jahrhunderts strebten nach Festigung und effektiverer Durchsetzung ihrer Staatsgewalt, was mit einer Systematisierung der Strafrechtspflege einherging. Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. diente diesem Zweck. Sie ließ zugleich die Zahl der Hinrichtungen in die Höhe schnellen, unter anderem, weil sie für Wiederholungstäter zwingend die Todesstrafe vorsah.
Der Mangel an elementarer Sicherheit, der den Alltag der Menschen prägte, steigerte im Gegenzug den Erwartungsdruck auf die Regierenden, durch hartes Durchgreifen gegen Straftäter ihre Herrschaft zu legitimieren. Die öffentliche Hinrichtung geriet unter diesen Umständen zu einer als "Theater des Schreckens" feierlich inszenierten Demonstration der Staatsgewalt, der zugleich eine religiös verbrämte Reinigungs- und Erlösungsfunktion zukam.
Mörder und Familienmensch
Harrington hat ein durchaus ambivalentes Verhältnis zum Protagonisten seiner Erzählung. Er nennt ihn einen "berufsmäßigen Mörder" und "Berufskiller". Zugleich zeichnet er das Bild eines "frommen, enthaltsamen Familienmenschen", mitfühlend und intelligent, der mit einem klaren moralischen Kompass ausgestattet war. Mit ähnlich ambivalenten Empfindungen blickte freilich auch Schmidt auf sich selbst. Er war zutiefst überzeugt von der Sinnhaftigkeit seiner Funktion, als Vollstecker exemplarischer Strafen die gestörte Ordnung wiederherzustellen und dem Frieden der Gesellschaft zu dienen. Zugleich hat Schmidt zeitlebens beklagt, "unschuldigerweise" zum Henkerberuf "gezwungen" worden zu sein, weil diesen bereits sein Vater ausgeübt hatte und er deshalb nicht habe "entrinnen" können.
Ambivalent war ja nicht zuletzt das Verhältnis der Zeitgenossen zum Scharfrichter. Schmidt war ein unentbehrliches, zudem von seinen Vorgesetzten geschätztes Organ der Rechtspflege. In der Nürnberger Stadtgesellschaft zählte er materiell gesehen zur gehobenen Mittelschicht, den wohlhabendsten fünf Prozent. Gefragt war er zudem in seinem Zweitberuf als Heilkundiger, dem seine eigentliche Neigung galt. Andererseits war der Scharfrichter der geächtete Paria der frühneuzeitlichen Gesellschaft, für den es vielerorts nicht einmal Platz in der Kirche gab. Zeitlebens hat Schmidt danach getrachtet, diesen Status zu überwinden. Zu guter Letzt ist es ihm gelungen, als ein kaiserliches Privileg seine Ehre wiederherstellte. "Ehrlicher Frantz Schmidt, Arzt in Obere Wörhrd", so stand auf seinem Grabstein, als er im Alter von 80 Jahren starb.
Harrington ist es gelungen, ein durchaus auch anrührendes individuelles Schicksal mit einer eingängigen Darstellung des justiz- und sozialgeschichtlicher Kontextes zu verbinden - und das in einem wissenschaftlichen Werk, das sich spannend liest wie ein historischer Roman.

Joel F. Harrington: Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert
Siedler Verlag, Berlin 2014
400 Seiten, 24,99 Euro

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