Sachbuch

Neuer Umgang mit Migration

Fußgänger gehen durch Berlin-Kreuzberg
Vielfalt allein sei kein gesellschaftlicher Wert, meint Paul Collier © picture alliance / dpa / Hubert Link
Von Winfried Dolderer · 22.11.2014
Der Ökonom Paul Collier argumentiert zugleich gegen konservative Migrations-Skeptiker und Multikulti-Enthusiasten. Er plädiert für drastische Beschränkungen des Rechts auf Familiennachzug und will illegalen Einwanderern eine Arbeitserlaubnis ermöglichen.
Der Autor Paul Collier ist Ökonom. Statistiken und ihre Interpretation gehören zu seinem Handwerkszeug. Relevant ist für ihn die Feststellung, dass zwischen 1960 und 2000 die Wanderungsbewegung innerhalb der reichen Welt gegen Null tendierte, während die Zahl der Migranten aus armen in reiche Länder von 20 auf 60 Millionen in die Höhe schnellte. Für irrelevant hält Collier die Frage, ob diese Entwicklung "gut oder schlecht" sei.
"Sie zu stellen ist ungefähr so sinnvoll, wie zu fragen, ob zu essen gut oder schlecht sei. In beiden Fällen geht es nicht um gut oder schlecht, sondern darum, wie viel am besten ist. Ein bestimmtes Maß an Migration ist sicherlich besser als keine Migration. Aber so wie übermäßiges Essen zu Fettleibigkeit führen kann, kann auch die Migration übermäßig sein."
Meinungsverschiedenheiten über Werte sind oftmals unlösbar
Damit klingt die Kernthese an. Collier polemisiert in zwei Richtungen. Gegen konservative Migrations-Skeptiker ebenso wie gegen Multikulti-Enthusiasten und ultraliberale Ökonomen, die den schrankenlosen Verkehr von Menschen nicht anders als von Waren und Kapital predigen. Seine Kritik gilt einer Debattenkultur, die er als "giftige Mischung aus aufgestachelten Gefühlen und verbreitetem Unwissen" charakterisiert.
"In der Auseinandersetzung über die Migrationspolitik wird viel häufiger über konkurrierende Werte als über widersprüchliche Tatsachen gestritten... Differenzen über Tatsachen und Beweismittel können in der Regel dadurch beigelegt werden, dass eine Seite ihren Irrtum einsieht. Hingegen sind Meinungsverschiedenheiten über Werte oftmals unlösbar."
Collier zählt zu den führenden Experten für die Wirtschaft der ärmsten Länder. Er war fünf Jahre lang Direktor der Forschungsabteilung der Weltbank, leitet an der Universität Oxford ein Zentrum für afrikanische Wirtschaftsforschung. Das Studium der Ökonomie ärmerer Regionen lieferte auch den Anstoß zum vorliegenden Buch.
Wie wirkt sich die Abwanderung auf Wirtschaft und Gesellschaft der Herkunftsstaaten aus, lautete Colliers Ausgangsfrage. Gibt es dort Mechanismen, die den Verlust von Fachkräften und Talenten kompensieren? Leisten Migranten mit ihren Rücküberweisungen einen nennenswerten Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Heimatländer? Wirken sie vielleicht sogar als Ideenvermittler für gesellschaftliche und politische Modernisierung?
Blick auf die Fakten ohne moralische Vorurteile
In gleicher Weise nimmt der Autor die Aufnahmeländer in den Blick. Welches sind die messbaren wirtschaftlichen Effekte der Zuwanderung? Welche Gruppen der einheimischen Gesellschaften profitieren, welche anderen müssen womöglich mit Migranten um öffentliche Güter konkurrieren? Schließlich die Einwanderer selbst: Wie verhalten sich die Gewinne zu den materiellen wie immateriellen Kosten der Migration? Zu all dem hat Collier eine Unzahl empirischer Befunde zusammengetragen. Dem Leser einen von "moralischen Vorurteilen" unverstellten Blick auf die Fakten zu bieten, ist schließlich sein Anspruch.
Ganz ohne wertorientierte Prämissen kommt freilich auch er nicht aus: Was spräche dagegen, wenn zum Beispiel die Bevölkerung Malis sich geschlossen in einer wohlhabenden Weltregion ansiedeln wollte? Aus Sicht eines ultraliberalen Ökonomen gar nichts. Für Collier eine ganze Menge. Gehe es doch um die Zukunft eines geschichtsträchtigen Landes, das die berühmte Oasenstadt Timbuktu hervorgebracht habe.
"Mali sollte sich entwickeln, nicht entleeren. Es ist keine zufriedenstellende Lösung der malischen Armut, wenn die Bevölkerung des Landes anderswo zu Wohlstand kommt. Ganz ähnlich wäre es ein schrecklicher Verlust für die Weltkultur, wenn Angola ein Außenposten Chinas oder England ein Außenposten Bangladeschs würde."
Gesellschaftliche Vielfalt sei kein positiver Wert
Die Vorstellung, Europas Nationen könnten sich in einer multikulturellen Zukunft auflösen wie Würfelzucker im heißen Kaffee, ist dem Briten Collier ein Graus. Sein Buch ist auch ein Plädoyer für die Rückbesinnung auf den Wert des Nationalbewusstseins als Fundament des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Das Gefühl einer gemeinsamen Identität stärke die Fähigkeit zur Kooperation. Es sei der einzig überzeugende Beweggrund für Vermögende, die Umverteilung von Einkommen durch das Steuersystem zu akzeptieren. Es sei die Basis für Vertrauen und gegenseitige Rücksichtnahme in einer Gesellschaft.
"Nationen sind wichtige, legitime moralische Einheiten. Tatsächlich sind es die Früchte erfolgreicher Nationalstaatlichkeit, die auf Migranten anziehend wirken."
Keine empirischen Daten
Collier widerspricht der These, dass gesellschaftliche Vielfalt stets ein positiver Wert sei. Gewiss, Vielfalt wirke bereichernd. Doch sie schwäche auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Autor zitiert Studien, die belegen sollen, dass mit wachsender kultureller Diversität der Vorrat an Vertrauen und gegenseitiger Rücksichtnahme abnimmt. Hauptaufgabe der Migrationspolitik ist somit für Collier, das Maß an Zuwanderung zu ermitteln, das mit der Stabilität der Aufnahmegesellschaften, aber auch der Herkunftsländer noch vereinbar ist.
In der Pflicht sieht er dabei die Regierungen der Aufnahmeländer, die allein über die Instrumente verfügten, die Wanderungsbewegung zu regulieren. Collier plädiert für strikte Obergrenzen und eine drastische Beschränkung des Rechts auf Familiennachzug. Er will Illegalen eine Arbeitserlaubnis und die Aussicht auf einen regulären Aufenthalt ermöglichen, sie bis dahin aber von Sozialleistungen ausschließen. Kriegsflüchtlinge sollen großzügig aufgenommen, nach dem Ende des Konflikts in ihrer Heimat aber ausnahmslos abgeschoben werden.
Collier argumentiert über weite Strecken als ökonomischer Theoretiker. Das ist eine Schwäche dieses Buches. Lässt sich die von ihm sogenannte "Absorptionsrate", der Anteil der Migranten also, die aus ihrer jeweiligen "Community" in die Mehrheitsgesellschaft wechseln, tatsächlich berechnen? Er betont selbst, dass es keine empirischen Daten gibt, um ein "verträgliches" Maß an Zuwanderung zu beziffern. Collier hat einen interessanten Debattenbeitrag vorgelegt. Den Stein der Weisen nicht.

Paul Collier: Exodus. Warum wir Einwanderung neu regeln müssen
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt
Siedler-Verlag, München
320 Seiten, 22,99 Euro

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