Sachbuch

Kompetenz statt Bildung

Ein Schüler der dritten Klasse einer Grundschule  meldet sich, aufgenommen am 14.01.2009.
Über 4000 Kompetenzen sollen sich zum Beispiel Schweizer Kinder in der Grundschule aneignen. © dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Von Eva Hepper · 30.09.2014
Die Beweislast ist erdrückend. Mit der Streitschrift "Praxis der Unbildung" seziert Konrad Paul Liessmann den Schul- und Unialltag. Als Kardinalfehler macht der Philosoph einen Kompetenz-Wahn aus, der die Bildung ersetzt hat.
Nein, Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, käme heute nicht mehr bis zum Abitur. Im Erzählen sei sie zwar eine Meisterin, aber diese Gabe sei leider nicht im Kompetenzkatalog für das Fach Geschichte gelistet. Im Gegenteil, das Erzählen habe "als reproduktiver Akt" keinen besonderen Wert für die Entwicklung "historischer Kompetenzen".
Und auch den anderen Musen ginge es derzeit nicht gut – weder in den Schulen, noch auf den Universitäten. Allenfalls Urania (Sternenkunde) habe Zukunft. Doch nicht, weil der ehrfurchtsvolle Blick zum "bestirnten Himmel" uns, wie es Kant formulierte, erschüttere, sondern wegen der Satelliten, die unsere Handy-Ortung steuerten.
Ein Leisetreter war Konrad Paul Liessmann noch nie. Bereits vor acht Jahren schrieb der österreichische Philosoph mit "Theorie der Unbildung" gegen die Bildungsbedingungen und die Schulen und Universitäten umkrempelnden Reformen – Stichworte Pisa und Bologna – an. Nun legt der streitbare Wissenschaftler, seit 2011 Professor am Institut für Philosophie in Wien, mit "Praxis der Unbildung" nach.
Die Wirtschaft gibt den Takt vor
Die Stoßrichtung seiner Streitschrift gleicht der des Vorgängerwerks. Liessmann beklagt in erster Linie einen Bildungsbegriff, der mit der ursprünglichen Idee einer umfassenden (Persönlichkeits-)Bildung nichts mehr zu tun hat. Klassische Konzepte seien dem Postulat der Anwendbarkeit, Verwertbarkeit und Nützlichkeit von Wissen geopfert worden. Die Anforderungen der Wirtschaft gäben den Takt vor. Schule und Universität böten keine Freiräume, sich mit Themen um ihrer selbst wegen zu beschäftigen, die musischen Fächer stünden gar längst auf dem Abstellgleis.
Liessmann hat starke Argumente. Er findet sie ganz mühelos im Schul- und Universitätsalltag, die er Kapitel für Kapitel genüsslich seziert. Ein Kardinalfehler, den er ausmacht, ist die "Umstellung von Bildung auf Kompetenzen". 4000 davon sollen bereits Grundschüler (in der Schweiz) erlernen. Als Mann vom Fach spießt Liessmann mit besonderer Freude die Anforderungen des österreichischen Philosophieunterrichts auf, der mit einer "dekonstruktivistischen Kompetenz" aufwartet. Ob Jacques Derrida die wohl besessen habe?
Liessmann formuliert brillant. Wenn er schließlich konstatiert, Pisa-Tests könne man abschaffen und die Bologna-Reform habe fast alle Ziele verfehlt, so mag man sich ihm anschließend. Die Beweislast ist drückend.
Pauschaler Rundumschlag
Doch hat diese Streitschrift, die sich als Rundumschlag entpuppt, auch Schwächen. Der Generalangriff auf Bildungsexperten, denen Liessmann pauschal Unfähigkeit und mediale Geltungssucht unterstellt, überzeugt nicht. Auch die fast ausschließlich negative Darstellung von Anwendungen wie Powerpoint oder Internetrecherche greift zu kurz. Und Lösungen für die Bildungsmisere hat auch Liessmann nicht zur Hand. Wenn er formuliert, dass "alle, die an Bildung interessiert sind" sich darüber verständigen müssten, "was Heranwachsende können und wissen sollten", dann fühlt man sich an Pisa und Bologna erinnert. Hatten ihre Schöpfer nicht genau das im Sinn?

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde: Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2014
192 Seiten, 17,90 Euro

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