Sachbuch "Die Erfindung des Nordens"

Faszination und Vereinnahmung einer Himmelsrichtung

10:38 Minuten
Eine aurora borealis, Nordlicht am Polarkreis.
Nordlicht am Polarkreis: Gerade in der deutschen Kulturtradition gebe es eine starke Begeisterung für den Norden, sagt Autor Bernd Brunner. © picture alliance/chromorange/Herwig Czizek
Bernd Brunner im Gespräch mit Joachim Scholl · 07.10.2019
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Bestseller-Autor Bernd Brunner schreibt in seiner "Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung" über die Faszination für den Norden. Sie habe im 18. Jahrhundert in Europa begonnen - und sich später in Deutschland auf sehr unglückliche Weise zugespitzt.
Joachim Scholl: Wir freuen uns jetzt, dass wir einen Klasseautor hier im Studio haben. Bernd Brunner hat schon etliche sehr erfolgreiche Bücher geschrieben, die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte auf höchst unterhaltsame Weise miteinander verbinden. Jetzt nimmt er uns aber auf eine richtig kühle Reise mit, hoch in den Norden. "Die Erfindung des Nordens", so heißt sein jüngstes Werk. Da denkt man sofort, gibt es ihn gar nicht, den Norden, muss man den erfinden?
Bernd Brunner: Doch, es gibt ihn natürlich, aber er ist immer mit bestimmten Vorstellungen, mit bestimmten Assoziationen umgeben. Ich habe tatsächlich am Anfang gedacht, bevor ich das Buch geschrieben habe, dass man die Entdeckung und die Erfindung fein säuberlich voneinander abgrenzen kann, aber ich bin dann immer mehr zu der Erkenntnis gekommen, dass diese Erfindung eigentlich schon ganz, ganz früh losgeht.
Also denken Sie an das sagenhafte Thule zum Beispiel, die Vorstellung von einem Magneteisberg, die Vorstellung von einem eisfreien Nordpolarmeer. Das zieht sich eigentlich durch durch die Geschichte bis in die Gegenwart. Man kann eigentlich immer von einer Erfindung sprechen, bin ich der Meinung.
Scholl: Es ist natürlich eine riesige Projektionsfläche. Wir werden sie ein bisschen abtasten mit Ihnen, Herr Brunner. Was hat Sie denn besonders fasziniert oder auch darauf gebracht, sich dafür zu interessieren und nicht für das Gegenbild, den Süden?
Brunner: Es gibt über den Süden ja schon ein wunderbares Buch von Dieter Richter, vor zehn Jahren erschienen. Das hat mich auch so ein bisschen sogar auf die Idee gebracht. Ich bin dann auf einen anderen Autor gestoßen, der vor Kurzem bei Ihnen besprochen wurde, Karl-Heinz Bohrer, der hat in seiner Dissertation sich mit dem Verhältnis von Romantik und Norden beschäftigt. Das fand ich sehr interessant. Ich verbinde selbst auch durchaus mit dem Norden sehr intensive Naturerfahrungen, also durch Reisen, die ich unternommen habe als Jugendlicher vor allem.
Ich habe mal Schwedisch gelernt, ist schon ein bisschen verschütt gegangen inzwischen. Aber es kamen so verschiedene Sachen zusammen. Also es gab so Bruchstücke, die waren mir bekannt, natürlich auch die Nordenverherrlichung durch die Nazis, und ich habe versucht, eigentlich dann die Ursprünge davon zu erforschen und zu sehen, wie weit geht das eigentlich zurück und war erstaunt, wie weit das zurückgeht.

Ursprung des "Einhorn"-Mythos

Scholl: Dieses furchtbare, dieses Kapitel stellen wir noch einen Moment zurück, Herr Brunner. Sie beginnen Ihr Buch aber auch doch mit einer Enttäuschung, könnte man sagen. Sie erzählen nämlich, wie es zu der Vorstellung kommen konnte, dass es überhaupt Einhörner gibt. Was ist das für eine Idee?
Brunner: Na ja, die Vorstellung dieses mythenbeladenen Vierfüßers, die wabert ja schon lange durch die Geschichte. Es gab dann einen gewissen Ole Worm in Kopenhagen, den dänischen Antiquar, der hat eine Wunderkammer geschaffen, das Museum Wormianum, und der hat sich aus dem Norden, im Wesentlichen aus dem Norden, Gegenstände mitbringen lassen, auch Knochen und so weiter, und darunter ist der Narwal auch, der dieses eine große Horn vor sich herträgt.
Er konnte damit den Mythos zerstreuen, dass dieses Einhorn, dieses Prinzip Einhorn seinen Ursprung bei einem Säugetier hat, sondern es hat es bei diesem Fisch im Grunde, bei diesem Meeressäugetier.
Portrait des Autors Bernd Brunner.
Bernd Brunner© Kiwi-Verlag/Michael Schidlack
Scholl: Unsere Kenntnis oder unsere Vorstellung vom Norden kommt natürlich auch durch die Rezeption von großer Literatur, also von deutscher Literatur. Der Norden war schon auch immer ein Faszinationsraum. Im 18. Jahrhundert geht das los bei Herder zum Beispiel, auch in den Zeiten der Empfindsamkeit. Was hat damals die Menschen, die Autoren, die Geistesschaffenden am Norden fasziniert?
Brunner: Ich denke, man muss eigentlich einen kleinen Schritt noch mal zurückgehen, also es wurde ja von Paul Marlee, Mitte des 18. Jahrhunderts etwa wurden die altisländischen Schriften entdeckt, also er hat sie aus dem Lateinischen ins Französische übertragen, und das war damals so eine Art "literary sensation". Also diese Sagas und Schriften wurden dann in verschiedene europäische Sprachen übertragen und haben eigentlich so ganz viele Intellektuelle damals infiziert.
Darunter ist Herder eine ganz wichtige Figur, der plötzlich im Norden meinte, die Quelle einer neuen Kraft zu erkennen, die auf uns zukommt. Das war damals auch die Zeit, wo man sich mit Magnetismus und Elektrizität sehr viel beschäftigt hat. Alles hatte so eine merkwürdige Symbiose im Grunde genommen. Interessanterweise war ja auch Herder selbst eigentlich gar nicht im Norden. Also das ist oft dann auch losgelöst, ist wie eine Fantasie, die sich entwickelt, die dann übergeschwappt ist zu verschiedenen anderen. Goethe war eher ablehnend, abweisend.
Scholl: Das ist auch ein interessantes Detail, dass also viele Nordfaszinierten eh nie dagewesen wären. So wie Goethe ja auch nie –
Brunner: Richtig.
Scholl: – nach Griechenland gegangen ist, –
Brunner: Genau.

Vereinnahmung der nordischen Tradition

Scholl: – obwohl er sich für Winckelmann so interessiert hat. Aber noch mal bei vielleicht auch berühmten Männern zu bleiben, zum Beispiel die Gebrüder Schlegel, Gebrüder Grimm haben sich auch sehr für die nordischen Sagen interessiert. Also altdänische Herrenlieder gibt es da, Balladen, Märchen, sogar mit Runen. Was war das für eine Spurensuche? Das ist ja doch noch sozusagen, wirklich dann in die Tiefenschichten dieses nordischen Kulturraums einzudringen.
Brunner: Richtig, ich denke auch, die Recherchen, die Grimm da durchgeführt hat, also er ist einerseits über die Dörfer gereist und hat dann sich auch dieses altnordische und nordische Schriftgut erschlossen, hat auch ein bisschen damit zu tun, dass man in Deutschland selbst eigentlich gar nicht so viele Schriften hatte, die sich auf diese Vergangenheit bezogen.
Also man empfand eine Art Vakuum der Tradition, und da begann eigentlich auch schon das, was für mich so ein bisschen der Leitgedanke des Buches auch ist, also die Vereinnahmung der nordischen Tradition oder der nordgermanischen Tradition für die deutsche Kulturtradition. Also insbesondere Wilhelm Grimm ist eine ganz wichtige Figur eigentlich, dass er gesammelt hat und das aufbereitet hat und allmählich einem Publikum zugänglich gemacht hat, wobei es damals wirklich auch kein Massenphänomen gewesen ist zu der Zeit. Das muss man sich auch wieder klarmachen.
Dafür braucht es dann noch andere Figuren. Also Wagner wäre da zum Beispiel zu nennen, Ernst Moritz Arndt ist eine sehr interessante Figur in dem Zusammenhang, sehr umstritten, auch zu Recht, der das Ganze so ins Nationale dann auch gedreht hat in seiner Abneigung auch gegen England und gegen Frankreich. Also da geht das los mit der Vereinnahmung eigentlich.

"Eher weichgezeichnetes Skandinavienbild" bei Rilke

Scholl: Auf jeden Fall gibt es immer eine starke geistesgeschichtliche deutsche Spur mit dieser Faszination, wenn wir ins 19. Jahrhundert, ins Ende des 19. Jahrhunderts kommen. Rainer Maria Rilke war, wie Sie schreiben, ganz schwer fasziniert von dieser Vorstellung im Norden. Was hat er eigentlich gesehen, so der Lyriker, der dann doch eigentlich im Süden seine großen Sachen geschrieben hat?
Brunner: Ja, richtig. Also ich denke, er wurde infiziert von diesem Nordengedanken während seiner Zeit in Worpswede, hatte dann mit skandinavischen Autoren auch Kontakt, ist nach Südschweden gereist. Da war das eher so das, was man heute vielleicht, würde ich so sagen, mit Ikea vielleicht verbindet oder mit diesem eher weichgezeichneten Skandinavienbild, dieses sehr natürliche, also gar unbedingt mehr so die Kraft wie jetzt bei Herder oder so.
Es waren einfach so Impulse, die er gut fand. Bei Thomas Mann war es dann schon ein bisschen stärker. Da war ich auch sehr überrascht, also mit welcher Emphase er das eigentlich, diese Nordenbegeisterung, vorgetragen hat.
Scholl: Im "Tonio Kröger" zum Beispiel.
Brunner: Genau, also wirklich die Ablehnung fast von Italien und auch der Rassegedanke.
Scholl: "Italien ist mir bis zur Verachtung gleichgültig."
Brunner: Genau, und der Rassegedanke kam bei ihm dann auch schon mit rein, also wo er sich dann natürlich mehrere Jahrzehnte vorher sicher gar nicht mehr so entsprechend dazu geäußert hat.
Scholl: Jetzt sind wir bei diesem unselig, unsäglichen Komplex, dieses nordische Übermenschentum, das sich dann wirklich fatalst die Nazis zu eigen gemacht haben, also deutsche nordische Herrenrasse. Was ist das eigentlich für ein Konzept, wo kommt das her, und warum hat das in Deutschland anscheinend bei diesen Rasseeugenikern, Hygienikern, so eingeschlagen?

"Sehr unglückliche Kombination verschiedener Bewegungen"

Brunner: Also es lässt sich erst mal sehr weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Es taucht dann richtig noch mal auf, also das Rassekonzept bei Gobineau ist ja auch allgemein bekannt, und da gab es einen gewissen Schemann, der hat die Schriften von Gobineau ins Deutsche übertragen, hat auch einiges von seinem Pessimismus, den dieser Gobineau hatte, auch genommen und hat offenbar da eine bestimmte Gefühlslage auch in Deutschland getroffen.
Das war eine Zeit, die Industrialisierung nahm an Tempo an, man war auf der Suche nach Orientierung, das Reich war gerade 1871 ja gegründet worden. Gleichzeitig gab es auch damals Antisemitismus natürlich. Es verband sich also sehr unglücklich eigentlich alles miteinander. Also diese Rassentheorien einerseits, diese Ausrichtung nach Norden. Das behandle ich relativ ausführlich auch, die Frage der Herkunft der Menschen, die war eigentlich Mitte des 19. Jahrhunderts völlig offen.
Also es waren eben nicht mehr die 6000 Jahre, wie es in der Bibel stand, sondern es war plötzlich ganz offen, man musste erklären, woher die Menschen einfach kommen. Da gab es einige Leute zum Beispiel auch, die meinten, die Menschen hätten ihren Ursprung, sogar am Nordpol, diese Vorstellung gab es. Dann ist Rudolf Virchow in den Kaukasus gereist, hat versucht, da die Verbindungslinien zu finden, hat sie aber nicht gefunden.
Also es ist eine sehr unglückliche Kombination von verschiedenen Bewegungen, die da einfach zusammengekommen sind, dass sich das dann so in Deutschland so zuspitzen konnte.

"Man wehrte sich ein bisschen gegen diese Vereinnahmung"

Scholl: Wie wurde das eigentlich im Norden selbst aufgenommen? Also haben die sich auch in die Brust geworfen und gesagt, Mensch, wir sind die Tollsten, oder haben die gesagt, was überlegt ihr euch denn da?
Brunner: Ja, ich denke, das gab es vereinzelt auch. Es gab auch, muss man auch sagen, wenn man das ganze Bild sieht, das erste Rasseninstitut, Rassenforschungsinstitut in Schweden auch, aber man hat sich sonst eigentlich eher distanziert dazu verhalten. Das ging ja schon im 19. Jahrhundert los, also da wehrte man sich auch ein bisschen gegen diese Vereinnahmung.
Es sind ja durchaus sehr verschiedene Länder mit sehr verschiedenen Geschichten in Skandinavien, wenn wir uns auf Skandinavien beziehen, mit unterschiedlichen Sprachen, die zwar zum Teil miteinander verwandt sind, jetzt vom Finnischen abgesehen, aber man war da gar nicht unbedingt einverstanden. Man hatte auch seinen Nationalstolz irgendwie, und das setzte sich dann später fort.
Während der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland waren ja die skandinavischen Gesellschaften sozialdemokratische Gesellschaften, also überhaupt nicht zu vergleichen, totaler Gegensatz eigentlich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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