Sachbuch

Der Zauber der weißen Bögen

Eine Frau schreibt mit einer Schreibfeder in altertümlicher Schrift.
Orsenna begibt sich auf eine abenteuerliche Spurensuche in die Vergangenheit des Papiers. © picture-alliance/ dpa / Bernd Thissen
Von Günther Wessel · 04.06.2014
Jahrhundertelang bewahrte Papier allein das Wissen der Welt. Trotz aller Digitalisierung ist es auch heute nicht wegzudenken. Der französische Autor Erik Orsenna ist auf Weltreise gegangen und hat eine höchst gelungene Geschichte über seine Erschaffung und seine Schönheit verfasst.
Die Erfindung des Papiers verdankt die Menschheit den Chinesen, und so beginnt Erik Orsenna seine Spurensuche in China: Entlang der Seidenstraße, die auch dafür sorgte, dass das Papier in die Welt gelangte. Von der einstigen abenteuerlichen Schönheit der Handelsroute, vom Zauber des Ostens entdeckt Orsenna heute allerdings nur wenig: Stattdessen öde Städte, die unter Umweltverschmutzung leiden. Aber er verliert sich nicht in der Enttäuschung, sondern sucht das Abenteuer in der Vergangenheit. Wunderbar anekdotenreich erzählt er so, wie im 8. Jahrhundert die erste Papiermühle in Samarkand (Usbekistan) eröffnet wurde und arabische Kalifen das Papier als wichtiges Herrschaftsinstrument entdeckten. Papier war fälschungssicher, da seine Oberfläche nicht verändert werden konnte, und war damit der ideale Träger für Aufzeichnungen. Dann erreicht das Papier das Mittelmeer und erhält dort erst seinen Namen. Schließlich ist die Ähnlichkeit zum ägyptischen Papyrus auffällig.
Herstellung aus Lumpen
Die ersten europäischen Papiermühlen entstehen in Italien, obwohl der Stauferkaiser Friedrich II. 1221 den Gebrauch von Papier für alle Verwaltungsakte untersagte. Er setzte auf Pergament, abgeschabte, dünne und gespannte Tierhaut. Trotzdem wurde Papier immer wichtiger – und seine Herstellung lohnend. Damals wird es aus Lumpen gefertigt, und so setzt in der Neuzeit ein Run auf Textilreste ein. In England wird sogar verboten, die Toten in Leichenhemden zu bestatten. Und Elsässer schmuggeln Textilreste nach Deutschland und in die Schweiz, weil dort die Fabrikanten mehr bezahlen.
Orsenna erzählt lustvoll, oft assoziativ, manchmal etwas manieriert, aber immer sehr genau. Er beschreibt seine Recherche und nimmt seine Leser mit in Archive, Bibliotheken und Fabriken. Etwa in die Pariser Bibliothèque Nationale, wo er ehrfürchtig das letzte Manuskript von Marcel Proust in den Händen hält, und auf Fabrikhöfe in Indien, wo Papier noch heute aus stinkenden Abfällen gefertigt wird. Nach Kanada, wo er Holzflößer trifft, in schwedische Holzfabriken, wo er erfährt, dass der Möbelkonzern Ikea kein einziges schwedisches Brett verarbeitet. Oder nach Sumatra, wo der Urwald gnadenlos geschreddert wird und Monokulturen von Ölpalmen aufgeforstet werden. Dort verliert er seinen sanften Tonfall.
Auf bestem Papier gedruckt
Die Liebe des Autors aber gilt dem Handwerk. Bewundernd berichtet er von Czeslow Bojakrski, der im Frankreich der 1950er-Jahre die anerkannt besten Franc-Noten auf selbst hergestelltem Papier fälschte, oder von den Bewohnern des japanischen Dorfes Echizen, die seit Jahrhunderten feinstes Papier herstellen. Kein Wunder also, dass der Verlag für dieses Buch bestes säurefreies, alterungsbeständiges und leicht getöntes Papier gewählt hat. So ist ein Gesamtkunstwerk entstanden.

Erik Orsenna: Auf den Spuren des Papiers. Eine Liebeserklärung
Aus dem Französischen von Caroline Vollmann
C.H. Beck Verlag, München 2014
336 Seiten, 19,95 Euro

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