S. Mancuso / C. Petrini: "Die Wurzeln des guten Geschmacks"

Ökologisch wirtschaften mit der Intelligenz der Pflanzen

Regenwald auf Tasmanien
Regenwald auf Tasmanien © dpa / picture alliance / Chad Ehlers
Von Elisabetta Gaddoni · 30.04.2016
Wie soll man Milliarden Menschen ernähren, ohne die Umwelt zu zerstören? Mit der Inspiration aus der Intelligenz der Pflanzen, meinen Carlo Petrini, Gründer der Slow-Food-Bewegung, und der Pflanzenforscher Stefano Mancuso in "Die Wurzeln des guten Geschmacks".
Eine Zahl lässt Stefano Mancuso gleich am Anfang fallen: 99,7 Prozent der Biomasse, die die Erde bedeckt, bestehe aus Pflanzen. Dennoch sei die Pflanzenwelt immer von der Wissenschaft unterschätzt worden: Der anthropozentrische Blick, der die 'vor sich hin vegetierenden' Pflanzen den Menschen und den Tieren unterordnet, beherrsche schon immer jegliche Beobachtung der Welt, meint der renommierte Biologe. In den letzten Jahren rückt allerdings das geheime Leben der Pflanzen immer mehr in den Focus der Forschung.
Mancuso, einer der international anerkanntesten Experten im Bereich der sog. 'Pflanzenneurobiologie', hat in seinem Werk "Die Intelligenz der Pflanzen" ausführlich gezeigt, dass diese in der Lage sind, zu kommunizieren und auf die Veränderungen der Umwelt adäquat zu reagieren. Das entgeht aber unserem Auge, da wir die Pflanzenwelt nicht genau beobachten und diese Prozesse für unsere Wahrnehmung zu langsam sind:
"Bei den Tieren finden wir Zentralisierung, Schnelligkeit, Singularität, bei den Pflanzen Dezentralisierung, Langsamkeit und Repetitivität. Die Pflanzen kommen mit einer anderen Methode zum selben Ergebnis. Und wenn ich mir die Verbreitung der Pflanzen auf unserer Erde anschaue, möchte ich sagen, sie haben den erfolgreichen Weg gewählt."
Dass Langsamkeit eine Tugend sein kann, betont auch Carlo Petrini seit nunmehr drei Jahrzehnten. Der Gründer der Bewegung "Slow Food" und des internationalen Agrarnetzwerkes "Terra Madre" setzt sich für eine Esskultur ein, nach der Genuss und Qualität eng mit sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit verbunden sind.
Seine Kritik galt schon immer der industrialisierten Landwirtschaft, die natürliche Ressourcen wie Wasser und fruchtbare Böden im Eiltempo aufbraucht, und der Massenproduktion, die minderwertige, standardisierte Lebensmittel erzeugt und eine maßlose Lebensmittelverschwendung verursacht.
Petrini plädiert für eine "Gastronomie der Befreiung", die Bauern, Köche und Verbraucher vereinigen soll:
"Ich bin davon überzeugt, dass uns die Gastronomie, in ihrer komplexen, umfassenden Bedeutung, den richtigen Weg weisen kann. Mit neuen Modellen und Paradigmen können wir den Hunger besiegen, die biologische Vielfalt bewahren und auf kluge Weise nutzen: Die armen Ökonomien werden dadurch aufblühen."
Keine Zukunft ohne biologische Vielfalt
Die Biodiversität ist das Hauptthema, auf das das Gespräch immer wieder zurückkommt. Sie sei der beste Schutz für den Erhalt der Pflanzen, betont der Biologe Mancuso. Monokulturen hingegen gefährden sie, machen sie anfällig für Krankheiten und bringen das Risiko mit sich, dass die ganze Ernte verloren ginge, so wie es in Irland im 19. Jahrhundert mit den Kartoffeln und in Lateinamerika in den 70er-Jahren mit den Bananen passierte.
Cover des Buchs "Die Wurzeln des guten Geschmacks" von von Stefano Mancuso und Carlo Petrini
Cover des Buchs "Die Wurzeln des guten Geschmacks" von von Stefano Mancuso und Carlo Petrini© Verlag Antje Kunstmann
60 Prozent unseres Kalorienbedarfs werde von nur drei Pflanzen gedeckt: Weizen, Reis und Mais, meistens auch von Sorten mit demselben Genom. Mancuso bezweifelt, dass es so gelingen wird, die neun Milliarden Menschen zu ernähren, die wir nach Schätzungen 2050 sein werden. Dagegen könnten uns die neuesten Erkenntnisse aus der Pflanzenforschung Wege in eine nachhaltige Zukunft weisen:
"Tiere können weglaufen und mussten daher keine besonderen Anpassungsfähigkeiten entwickeln. Pflanzen aber haben sich über Jahrhunderte von Jahrmillionen angepasst, um die Angriffe von Tieren, die Zumutung ihrer Umwelt oder klimatische Härten zu überleben (…) Ausgerechnet die Sesshaftigkeit, die Bodenhaftung, hat den größten Veränderungsdruck auf Lebewesen ausgeübt! Das könnte uns doch etwas sagen? Ich finde, hier zeigt sich wieder einmal, wie modern die Lösungen der Pflanzen sind: Ihre Lösungen sind energiesparend, nicht ausbeuterisch gegenüber dem Ökosystem und bei Widrigkeiten äußerst widerstandsfähig."
Sinnbild für Basisdemokratie
Pflanzen verbreiten sich horizontal, über die Wurzeln, und sind nicht hierarchisch organisiert, sondern modular gebaut. Sie können sich daher auch teilen: Wenn ein Teil stirbt, überlebt der andere. Dieses Organisationsmodell, "die lebende Verkörperung einer Liquid Democracy", fasziniert Stefano Mancuso zutiefst und liefere seiner Meinung nach allerhand Anregungen, um neue Gesellschaftsformen zu entwickeln. Carlo Petrini sieht dies fast schon im internationalen Agrarnetzwerk Terra Madre verwirklicht, da die kleinen Produzentengemeinschaften, die in der ganzen Welt verstreut sind, nicht hierarchisch organisiert sind. Dennoch seien sie auch, wie die Pflanzen, von einem gemeinsamen Bestreben geleitet: eine soziale und nachhaltige Landwirtschaft zu betreiben.
"Im Netzwerk 'Terra Madre' leben verschiedene Sprachen, Gedankenwelten und Bedürfnisse nebeneinander, aber wir alle sind getragen von einer Intelligenz des Herzens, dem Gefühl, Teil von etwas zu sein, das der französische Philosoph Edgar Morin 'Schicksalgemeinschaft' nennen würde. Wir haben ein starkes Gemeinschaftsgefühl, ein gemeinsames Schicksal, weil wir alle Bewohner der Erde – Terra – sind, und darum fühlen wir uns nah, wie Brüder und Schwestern."
Carlo Petrini und Stefano Mancuso wehren sich lebhaft gegen den häufig gehörten Vorwurf, Sozialromantiker zu sein. Selbst wenn sie sich immer wieder rhetorisch überschlagen, kommt es nie zu einer Meinungsverschiedenheit, da ihre Positionen viel zu ähnlich sind. So können sich die beiden nur gegenseitig bestätigen und den Beobachtungen des anderen einfach nur weitere Argumente aus der eigenen fachlichen Perspektive hinzufügen.
Für diejenigen, die sowohl Petrinis Schriften als auch Mancusos spannende Werke über die Pflanzenintelligenz bereits kennen – die Texte beider Autoren sind auf Deutsch erschienen – bietet das Buch keine wirklich neuen Erkenntnisse. Auch der Versuch, Modelle aus der Biologie auf das menschliche Zusammenleben zu übertragen, kann man höchstens als inspirierende Metapher nehmen, bzw. als den Wunsch, der Mensch möge sich nicht mehr als Mittelpunkt der Welt sehen, sondern als ein Element im Ökosystem, dem eine besondere Verantwortung zukommt. Und diesem Wunsch kann man sich durchaus anschließen.

Stefano Mancuso / Carlo Petrini: Die Wurzeln des guten Geschmacks
aus dem Italienischen von Christine Ammann
Verlag Antje Kunstmann,112 Seiten, 10,00 Euro

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