Russlands Wende nach China

Anspruch und Wirklichkeit einer Freundschaft

Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) und Chinas Staatschef Xi Jinping sind sich bei den Gas-Lieferungen einig geworden.
Russlands Präsident Wladimir Putin (rechts) und Chinas Staatschef Xi Jinping: Welche Zusammenarbeit ist möglich? © ITAR-TASS Photo/Mikhail Metzel
Von Gesine Dornblüth  · 23.08.2016
Russland sucht eine Partnerschaft mit China, weil es mit Europa zurzeit nicht so gut läuft: Doch die nachbarschaftlichen Beziehungen bleiben geschäftlich, die von Putin ausgerufene Freundschaft auf die politische Ebene beschränkt.
Bis in Russland die Krise begann und der Rubel verfiel, fuhren vor allem Russen hinüber nach China, um billig einzukaufen und zu essen. Jetzt ist es anders herum. Doch ein wirtschaftlicher Aufschwung durch chinesische Investoren bleibt bisher aus.
Ist zwischen den beiden Staaten eine Modernisierungspartnerschaft möglich, die auch strategischen Interessen dient?

Blick auf Blagoweschtschensk – eine Stadt an der russisch-chinesischen Grenze.
Blick auf Blagoweschtschensk – eine Stadt an der russisch-chinesischen Grenze. © Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
An der Promenade von Blagoweschtschensk hängt ein Schild: "Baden verboten". Ein Mann in Badehose setzt zu einem Salto rückwärts an.
Der Amur, Grenzfluss zwischen Russland und China, fließt schnell. In der Flussmitte rauscht ein Ausflugsdampfer stromabwärts. Die Rettungswesten der Passagiere leuchten orange.
Das Boot kommt aus Heihe. Die Stadt liegt direkt gegenüber am chinesischen Flussufer. Ein Riesenrad ist dort zu sehen, moderne Hochhaussiedlungen.
Alexander nimmt einen Fisch von der Angel und verstaut ihn in einer Plastiktüte. Der Fisch ist gerade mal eine Hand lang. In der Tüte zappelt ein noch kleineres Exemplar.
Alexander: "Die sind für meinen Kater. Der vergöttert Fisch."
Eine Gruppe Chinesen stellt sich an der Promenade auf, macht Fotos. Touristen. Die Grenze nach China ist seit Anfang der Neunzigerjahre geöffnet. Mehrmals täglich verkehrt eine Fähre. Russen und Chinesen können ohne Visa auf die jeweils andere Seite fahren. Alexander ist Gelegenheitsarbeiter. Er war noch nie in Heihe.
Alexander: "Mir geht es auch hier gut. Und ich kenne dort doch keinen."
Er blickt hinüber auf die Hochhausbauten. In Blagoweschtschensk mit seinen rund 200.000 Einwohnern stammen die meisten Häuser aus der Sowjetzeit. Das Ufer ist hier zwar planiert, aber unbebaut. Außer einem asphaltierten Spazierweg gibt es nur ein paar Bänke zum Ausruhen.
Alexander: "Wir haben angefangen, unser Ufer zu bebauen. Dann haben sie in Heihe nachgezogen. Wir sind immer noch dabei, aber die – Sie sehen ja selbst, was dort alles steht. Die Chinesen sind viele, und die arbeiten wie die Ameisen, Tag und Nacht."

"Chinesen kommen und kaufen billig ein"

Etwas weiter steht die Rentnerin Olga und schaut über den Fluss.
Olga: "Ich war drei Mal dort. Es ist nicht schlecht. Heihe ist eine saubere Stadt, asphaltiert, überall beleuchtet.
Wir sind aber seit drei Jahren nicht mehr gefahren. Es ist teuer geworden, wegen des Rubelverfalls. Jetzt kommen die Chinesen eher zu uns und kaufen hier billig ein.
Sie mögen unsere Milchprodukte, Schokolade, Pralinen. Und unser Schwarzbrot. Denn das haben sie ja nicht dort. Das kaufen sie hier in Mengen.
Die Zahl chinesischer Touristen, die Russland besuchen, ist im ersten Halbjahr 2016 gegenüber dem Vorjahr um mehr als 60 Prozent gestiegen. Chinesen arbeiten auf Baustellen in Russlands Fernem Osten. Und sie handeln auf den Märkten, verkaufen Waren aus China.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat China zum neuen Freund und Partner erkoren. Bereits 2012, kurz vor seiner Wiederwahl zum Präsidenten, sprach er in einem programmatischen Artikel von der Chance, "chinesischen Wind in den Segeln der russischen Wirtschaft einzufangen." Richtig los ging die Freundschaft aber erst im April 2014.
Da hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert, mit dem Westen gebrochen und unterzeichnete flugs eine ganze Reihe von Wirtschaftsverträgen mit dem östlichen Nachbarn, unter anderem über eine Gaspipeline nach China. 2015 reisten Wladimir Putin und Chinas Staatspräsident Xi Jinping in das jeweils andere Land, um dort die Militärparade zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges zu besuchen – eine symbolträchtige Geste.
Die russische Boulevardpresse aber warnt immer mal wieder vor einer "gelben Gefahr". Die Rentnerin Olga gibt nicht viel darauf.
Olga: "Chinesen sind überall. Im ganzen Fernen Osten. In Wladiwostok, in Chabarowsk, in Ussurijsk. Aber wenn du sie in Ruhe lässt, lassen sie dich auch in Ruhe. Ich denke, unser Staat wird nicht zulassen, dass China den Fernen Osten vollständig besetzt. Oder vielleicht doch?"
Blagoweschtschensk war, aufgrund der Grenznähe, zu Sowjetzeiten für Ausländer geschlossen. Die russische Regierung hat die Region lange vernachlässigt. Der Lebensstandard ist niedrig, Wohnraum teuer. 45 Prozent der Bewohner wollen die Amur-Region verlassen. Das besagt eine Umfrage vom Beginn des Jahres.
Chinese zählt mit Akzent. Russe fragt nach Größe, dann wieder Zählen, Rascheln
Der Chinesenmarkt "XL" in Blagoweschtschensk. Zwei Stockwerke, eine Rolltreppe. Enge Gänge, ein Verkaufsraum neben dem anderen, vollgestopft mit Waren aus China: Sonnenbrillen. Taschen. Damen-Unterwäsche. Kinderkleidung. Alle Verkäufer sind Chinesen. Ein Mann zählt Pantoffeln ab, der Kunde, ein Russe, fragt nach der Größe. Er nimmt gleich ein Dutzend. Es ist nur wenig Kundschaft da. Auch hier wirkt sich die Rubelkrise aus. Eine Verkäuferin hockt auf dem Gang, vertreibt sich die Langeweile mit einem Videospiel.

Kaum Geld in den Dörfern

Tatjana kommt aus einem Ort rund 200 Kilometer nördlich von Blagoweschtschensk. Sie ist am Morgen vier Stunden mit dem Bus gefahren, um auf dem Chinesenmarkt Ware für ihren Laden zu kaufen. Bevor der Bus zurückfährt, ruht sie sich noch ein bisschen aus.
Tatjana: "In den Dörfern ist überhaupt kein Geld da. Dort leben nur noch alte Frauen, sie kaufen nur das Nötigste. Sie haben mir vorher gesagt, was ich ihnen besorgen soll. Hausschuhe, Socken, so etwas."
Bis vor zwei Jahren ist Tatjana hinübergefahren nach China, hat in Heihe eingekauft. Das lohnt sich jetzt nicht mehr, die Fähre kostet zu viel Geld. Tatjana muss genau rechnen.
Tatjana: "Was wir früher für 700 Rubel bekommen haben, kostet jetzt 1.600. Oder 1.800. Russische Waren gibt es hier überhaupt nicht. Die einzige Alternative ist Kleidung aus Usbekistan. Die ist billiger, fällt aber nach zwei, drei Wäschen auseinander."
Tatjana kommt über die Runden, weil sie immer bei derselben Händlerin einkauft, die ihr Rabatte gewährt. Die Chinesin hat sich für ihre Kunden einen russischen Namen gegeben: Natascha. Sie stammt aus der Gegend von Schanghai, lebt aber seit vielen Jahren in Blagoweschtschensk.
Natascha: "Bei uns in Shanghai gibt es jetzt viele junge Russen. Sie studieren und arbeiten dort. Ihnen gefällt es wohl."
Die Russin Tatjana erzählt von ihren Söhnen. Der eine ist arbeitslos, der andere arbeitet im Hohen Norden auf dem Bau. Einen Monat ist er dort, einen Monat hat er frei. In letzter Zeit wurde der Lohn zurückgehalten. Wäre China eine Alternative? Das boomende Heihe? Beide Frauen winken ab. Der Norden Chinas sei vergleichsweise arm.
Tatjana: "Und man braucht in China so viele Genehmigungen, das ist schwer."
Natascha: "Ja, viele Dokumente. Für die Arbeitserlaubnis."
Die russische Regierung hofft, dass chinesische Unternehmen im Rahmen der russisch-chinesischen Zusammenarbeit in Russland investieren, wegen der Nachbarschaft besonders im Fernen Osten. Diese Hoffnungen haben sich bisher nicht bewahrheitet. China tätigte im Jahr 2015 nicht mal ein Prozent seiner gesamten Auslandsinvestitionen in Russland. Und der Handel zwischen den beiden Ländern ist im vergangenen Jahr sogar um etwa ein Drittel zurückgegangen.
In Chabarowsk, eine rund achtstündige Autofahrt nordöstlich von Blagoweschtschensk, gleichfalls am Amur, wirbt eine staatliche Entwicklungsagentur um Investitionen. Ihr Leiter, Iwan Suchanow, erzählt, die Kontakte zwischen chinesischen und russischen Wirtschaftsvertretern seien enger geworden. Es gäbe viele Besuche von Wirtschaftsdelegationen. Chinesische Investoren seien aber immer noch selten.
Suchanow: "Ich höre sehr oft, dass die Chinesen bereit sind, ein chinesisch-russisches Joint Venture zu gründen, aber auf chinesischem Gebiet. Obwohl wir in Russland die Technologie haben, zum Beispiel für Fischverarbeitung. Aber die Chinesen sagen: Kommt zu uns. Vielleicht sind sie dort flexibler in ihrer Geschäftspraxis.
Und vielleicht ist die Auswahl an Arbeitskräften dort auch größer. In Chabarowsk leben 600.000 Menschen. Auf der anderen Seite, im chinesischen Grenzgebiet, sind es fünf Millionen."
Iwan Suchanow ist in den vergangenen Jahren mehrfach nach China gereist. Er berichtet, dass sich die Regionen dort schneller entwickeln als auf der russischen Seite.
Suchanow: "Letztes Jahr war ich in Fuyuan. Das ist eine typische kleine Grenzstadt. Vor fünf Jahren war es noch ein Dorf. Die chinesische Regierung setzt offenbar darauf, die Grenzregionen zuzubauen. Es gibt gute Restaurants.
Und was mich vor allem überrascht hat: Die Chinesen haben ausgezeichnete Straßen. Ich war regelrecht schockiert. Im positiven Sinn."

Veraltete russische Infrastruktur

Experten nennen mehrere Gründe, weshalb chinesische Investoren Russlands Fernen Osten bisher meiden: Zum einen hat sich das Wirtschaftswachstum auch in China erheblich verlangsamt, es ist weniger Geld da. Zum zweiten sind chinesische Unternehmer an schnellen Gewinnen interessiert; sie sind aufgrund der krisenbedingten schlechten Nachfrage in Russland derzeit nicht zu machen.
Drittens ist Russlands Infrastruktur veraltet, deshalb sind Transport- und Logistikkosten gerade im asiatischen Teil Russlands unverhältnismäßig hoch. Daher investieren bisher vor allem Idealisten in Russlands Fernen Osten.
Zurück in Blagoweschschtensk. Das Hotel "Azija" ist das höchste Gebäude im Stadtzentrum. Es gehört einem Chinesen. Im obersten Stock dreht sich ein Restaurant. Drei Geburtstagsgesellschaften feiern an diesem Abend bei chinesischem Buffet. Während draußen die beleuchteten Viertel von Heihe und die dunklen Dächer von Blagoweschtschensk vorbeiziehen, wagen sich russische Frauen auf hohen Absätzen auf die Tanzfläche. Auch zwei junge Chinesinnen kommen dazu. Nach einer Weile fassen sich alle an den Händen.
Der Besitzer des Hotels heißt He Wenan. Er kam vor 27 Jahren nach Russland, zunächst für ein chinesisches Unternehmen, dann machte er sich selbständig.
Man könne gute Geschäfte machen in Russland, sagt er. Die Bedingungen seien so gut wie anderswo.
He Wenan: "Du musst kalkulieren, die Arbeiten ausführen, die Buchhaltung muss ihre Arbeit machen, und dann zahlst du Steuern. Ganz einfach."
Modell für den Freizeitpark Klein-Venedig, der in Blagoweschtschensk entstehen soll.
Modell für den Freizeitpark Klein-Venedig, der in Blagoweschtschensk entstehen soll. © Deutschlandradio / Gesine Dornblüth
Er baut bereits das nächste Projekt: Klein-Venedig, einen Freizeitpark.
He Wenan fährt zur Baustelle. Sein Auto ist das größte auf der Straße, ein amerikanischer Geländewagen, weiß, innen Mahagoni und beiges Leder. Dort, wo üblicherweise das Nummernschild befestigt ist, steht "Russia".
Über staubige Straßen geht es in ein Industrieviertel am Stadtrand. Dann ein Tor, Brachland und die Grundmauern eines langen Backsteingebäudes. Letztes Jahr haben die Bauarbeiten für "Klein Venedig" begonnen. In fünf Jahren soll alles fertig sein, zehn Hektar Fläche.
Eine Kopie des Markusturms soll entstehen, die Barockkirche Santa Maria della Salute eins zu eins, ein Stück des Canal grande. Weil man sich das nicht vorstellen kann, zeigt He Wenan ein Modell des Disneylands. Es nimmt einen ganzen Saal in seinem Hotel ein. Die venezianischen Gebäude sind von innen beleuchtet. Auf einer Wasserstraße eine Gondel.
He Wenan: "Das hier ist Santa Maria. Innen bauen wir ein Cafe. Da können sich die Leute ausruhen.
Und das und das werden Hotels. Das letzte auch. Insgesamt drei. Und hier bauen wir eine Fußgängerzone. Da wird dann allerlei Kunst verkauft.
He Wenan rechnet mit chinesischen Touristen. Und er hofft, dass auch Russen sein Klein-Venedig besuchen wollen.
He Wenan: "Aus Moskau, aus Novosibirsk. Das ist für einfache Leute, die nicht nach Europa reisen. Die sollen Venedig auch sehen können."
Sollte Venedig tatsächlich untergehen, dann habe er hier eine Weltattraktion. He Wenan grinst.
Mit der Verständigung ist es ein wenig schwierig. Die meisten Chinesen, die Blagoweschtschensk besuchen, sprechen nur wenig Russisch. Die Chinesisch-Kenntnisse der Russen sind noch schlechter. Übersetzer, Dolmetscher werden gebraucht, dementsprechend sind auch Sprachlehrer gefragt.
Die Pädagogische Universität von Blagoweschtschensk hat wohl die renommierteste Fakultät für Sinologie in Russland. Gerade läuft eine Sommerschule für Russischlehrer aus China. Neun Frauen und ein Mann sitzen in einem Seminarraum, vervollkommnen ihr Russisch mit der Musik von Wladimir Wysozkij. Sie kommen aus Harbin, einer Drei-Millionen-Stadt im Nordosten Chinas. Zhong Tje spricht für die Gruppe. Sie erzählt, an ihrer Universität hätten dieses Jahr 90 Studenten einen Russisch-Abschluss gemacht. Das Interesse an der Sprache steige.

Chinesisch-Boom in Russland

Zhong Tje: "Es gibt Puschkin. Dostojewskij. Gogol. Tolstoj. Repin. Wir lieben die russische Literatur sehr, auch die Musik. Überhaupt die russische Kultur. Und außerdem sind wir Nachbarn."
Umgekehrt gäbe es in Russland einen Chinesisch-Boom, sagt Olga Zalesskaja, Dekanin der Pädagogischen Hochschule in Blagoweschtschensk. Vor Jahren hat sie selbst hier Chinesisch studiert.
Zalesskaja: "Das war der Rat meiner Eltern. Beide waren Prorektoren an dieser Universität, und meine Mutter war diejenige, die als erstes in unsere chinesische Nachbarstadt Heihe hinübergefahren ist, um Verbindungen mit der dortigen Universität zu knüpfen. Das war 1989, und sie hat schon damals erkannt, dass sich China wirtschaftlich schnell entwickeln und Chinesisch bald populär sein wird."
Etwa ein Viertel der Absolventen finde Arbeit im russischen Staatsdienst, so Zalesskaja. Viele gingen auch nach China, um dort in der Wirtschaft zu arbeiten. Die meisten aber würden Chinesisch-Lehrer.
Zalesskaja: "Sie unterrichten an Schulen, Universitäten und Privatschulen. Im europäischen Teil Russlands sind unsere Absolventen sehr gefragt, denn da wir an der Grenze zu China leben, vermitteln wir eine sehr gute Umgangs- und Alltagssprache – und kein Akademikerkauderwelsch, das die Chinesen dann gar nicht verstehen. In Moskau ist das nämlich ein Problem."
Dort glauben sie es gar nicht, wenn wir ihnen sagen: Die Chinesen sind ziemlich pragmatisch und geerdet. Die wollen Geld verdienen. Und wenn sie euch zum Tee einladen, dann wollen sie wahrscheinlich was von euch.
Dem Gerede der Politiker von einer Wende nach China kann Zalesskaja nicht viel abgewinnen. Hier, im Amur-Gebiet, sei man einfach aufeinander angewiesen.
Zalesskaja: "Die Russen, die hier leben, verstehen sehr gut, dass sie es ohne die Chinesen viel schwerer hätten. In den Neunzigerjahren, als überall Mangel herrschte, haben wir praktisch dank der Chinesen und ihrer billigen Waren überlebt."
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