Russlands Impfdiplomatie

Sputnik V für die Welt

25:37 Minuten
Das Foto zeigt zwei blau-weiße Medikamentenpackungen mit russischer Aufschrift, die den Covid-Impfstoff Sputnik V enthalten.
Ein Impfstoff als politisches Projekt: Bisher ist Sputnik V nach russischen Angaben in 50 Ländern zugelassen und man hofft, es werden bald mehr. © imago images / ITAR-TASS / Mikhail Metzel
Thielko Grieß, Danja Antonovic, Peter Liese · 18.03.2021
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Sputnik V wird auf der ganzen Welt geimpft, hat aber noch keine Zulassung in der EU. Russland rührt mächtig die Werbetrommel für seinen Impfstoff, der Prestige und Geld bringen soll. Doch im eigenen Land überwiegt das Misstrauen.
Die Diskussion über den Impfstoff AstraZeneca gibt dem russischen Sputnik V Rückenwind. Sputnik wird bereits in 50 Ländern verimpft, aber für eine EU-Zulassung fehlen noch entscheidende Daten, so Peter Liese, EVP-Abgeordneter im Europaparlament: "Russland muss diese Daten liefern, denn es muss genau geprüft werden. Wenn der Impfstoff den hohen Qualitätsstandard der Europäischen Arzneimittelagentur erfüllt, dann sollten wir ihn auch nutzen."
Sollte die EMA die Zulassung empfehlen, muss die Europäischen Kommission noch zustimmen. "Ich rate der Europäischen Kommission ganz dringend, das nicht politisch zu bewerten, sondern sachlich," so Liese. "Allerdings muss der Impfstoff auch lieferbar sein, und das bezweifle ich." Eine Politisierung der Impfstoffdebatte sieht Peter Liese auf russischer Seite. "Russland beliefert die ganze Welt, aber im eigenen Land gehen die Impfungen nicht voran."

Corona-Impfung in Moskau - ein Selbstversuch

Dabei gibt es in Russland durchaus Möglichkeiten, sich impfen zu lassen, "in Moskau an vielen Ecken", berichtet Korrespondent Thielko Grieß von seinem Selbstversuch:
Es ist Samstag, kurz nach zehn Uhr. Das Kaufhaus GUM am Roten Platz hat vor wenigen Minuten die Eingangstüren zu seinen Wandelgängen geöffnet. Vor einer Rolltreppe wurde ein Hinweisschild aufgestellt: Zur Impfung fahre man hinauf ins zweite Obergeschoss. Dort warten zehn weitere Impfwillige in einer Schlange vor mir. Mir scheint, dies ist der einzige Ort in Moskau, an dem wirklich Abstand gehalten wird. Überall sonst gilt: Masken werden fast nur noch in Ausnahmefällen über Mund und Nase getragen, wenn überhaupt. Und die U-Bahn ist voll.
Der ältere Mann vor mir wollte zu seiner Impfung nicht in eine Poliklinik gehen, denn da brauche man einen Termin: "Aber ich bin viel unterwegs, ich kann mich nicht festlegen."
Ins GUM kann jeder kommen. Einfach so. Ohne Termin. Verimpft wird Sputnik V: "Jedenfalls ist das besser als dieses amerikanische Vakzin", sagt er. "An dem sind ja schon Leute gestorben. Das steht im Internet."
Wenig später stehe ich am Anmeldeschalter. Freiwillige helfen, die Organisation ist tadellos. Dann schon wird die Spritze aufgezogen und Momente später in meinen rechten Oberarm gesetzt. Eine Minute später erhalte ich mein Zertifikat mit Stempel, Datum und Unterschrift. Und der nächste Freiwillige reicht mir als Belohnung ein Eis am Stiel. Kostet nichts. So wie die Impfung auch.

Ethische Debatten werden nicht geführt

Mit der Pandemie wird in Russland ganz anders umgegangen als in Deutschland. Zwar hatte es vor etwa einem Jahr in Moskau und anderswo einen rigorosen Lockdown gegeben, doch seitdem wurde fast alles wieder geöffnet. Gleichzeitig bringen Staat, Behörden und deren Handlanger in den Medien permanent falsche, sich widersprechende und lückenhafte Informationen in Umlauf. Sie behaupten, die Infektionszahlen sänken, die Pandemie sei unter Kontrolle. Begriffe wie Sieben-Tage-Inzidenz und Long-Covid sind den meisten Menschen unbekannt, über Mutationen wird kaum gesprochen.
Die einzige Statistik, die wohl nicht gefälscht ist: die Übersterblichkeit für den Pandemie-Zeitraum des vergangenen Jahres, April bis Dezember. Sie spricht von fast 360.000 zusätzlichen Toten. Das ist Platz zwei weltweit hinter den USA, wobei Russland viel weniger Einwohner hat. Die Verluste des Landes sind so groß wie seit den Tagen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr.
Ein Mann mit FFP2-Maske und ärmellosem schwarzen T-Shirt bekommt eine Spritze in den rechten Oberarm.
Tadellose Organisation und zum Abschluss gibt es ein Eis: Unser Korrespondent Thielko Grieß hat sich in Moskau gegen Covid-19 impfen lassen.© Deutschlandradio / Thielko Grieß
Irina Yakutenko, Molekularbiologin und Autorin des Buches "Das Virus, das den Planeten zerschlägt", stellt fest:
"Das ist die ehrlichste Statistik, die eine Vorstellung davon gibt, wie die Pandemiesituation ist. Russland ist faktisch nah dran an einer natürlichen Auslese. Wer alt und krank ist, der stirbt. Währenddessen durchlaufen die Übrigen die Krankheit. Das Leben geht weiter."
Eine ethische Debatte wird nicht geführt. Auf den Covid-Stationen der Krankenhäuser wird, soweit bekannt, buchstäblich bis zum Umfallen gearbeitet. Allerdings dürfen Mediziner staatlicher Kliniken, und nur die behandeln die Krankheit, mit Journalisten nicht sprechen.

Sputnik V auf internationalem Erfolgskurs

Auf der anderen Seite hat Russland den Impfstoff Sputnik V entwickelt. Ein Vektor-Impfstoff, über den seit einem Artikel im Fachmagazin "The Lancet" bekannt ist, dass er zu 91,6 Prozent wirksam und sicher sei. In den klinischen Testphasen zuvor war jedoch viel schief gegangen, vor allem, weil Sputnik auf Wunsch des Kremls unbedingt schnell eingesetzt werden sollte, als noch nicht zu Ende getestet worden war.
Sputnik V war von Beginn an ein politisches Projekt, schon angefangen beim Namen. Sputnik hieß der erste Satellit in der Erdumlaufbahn, dorthin gebracht von der Sowjetunion. Der Erste sein, der Welt imponieren, das will Russland nun auch mit seinem Impfstoff. Der wird exportiert und darüber hinaus in einigen Ländern in Lizenz produziert.
Mit Ungarn, Tschechien und der Slowakei haben drei EU-Länder entschieden, nicht auf das Urteil der Europäischen Arzneimittelagentur EMA zu warten, sondern Sputnik für ihre Territorien bereits zuzulassen.
Kirill Dmitrijew leitet den Russischen Direktinvestitionsfonds, der die Entwicklung von Sputnik finanzierte und nun die internationale Vermarktung steuert.
"Die Entscheidung der Slowakei zur Verwendung des russischen Impfstoffs ist zweifellos ein richtiges Zeichen sowohl für die Rettung von Menschen in der Slowakei als auch dafür, dass diese Rettung stärker wog als der Wunsch, den russischen Impfstoff zu politisieren."
Innerhalb der slowakischen Regierungskoalition war der Kauf von Sputnik V jedoch nicht abgesprochen. Der Gesundheitsminister verkündete in Bratislava inzwischen seinen Rücktritt.

Günstiger Preis, einfache Logistik

In Russland gelten die Vereinbarungen mit EU-Staaten als großer Erfolg, sagt im Sender Kommersant FM Larissa Popowitsch, Direktorin für Ökonomie im Gesundheitswesen an der Hochschule für Wirtschaft in Moskau.
"Im Grunde haben wir uns einen Markt erkämpft. Wir sind dort eingedrungen, wo wir vorher praktisch nicht waren. Das ist erstens ein großer Durchbruch für das Image, und zweitens ist es gutes Geld, weil die Käufe und Lizenzeinnahmen sehr groß sein werden."
Sputnik V ist weltweit nach Angaben des Russischen Direktinvestitionsfonds in mehr als 50 Ländern zugelassen. Der Preis fällt wohl je nach Land und Vertrag unterschiedlich aus, soll aber unter denen europäischer oder US-amerikanischer Konkurrenten liegen. Geworben wird auch mit einfacher Logistik, weil das Vakzin bei Kühlschranktemperaturen gelagert werden kann.
Verimpft wird es zum Beispiel in Argentinien, Venezuela, Algerien, Guinea, den Palästinensergebieten und in Ländern, die zu Russland ohnehin enge Verbindungen haben, darunter Kasachstan und Belarus. Die ersten Lieferungen, oftmals nur einige tausend oder zehntausend Dosen, wurden an Flughäfen feierlich begrüßt. Produziert werden soll auch in Italien und anderen europäischen Ländern, darunter auch Deutschland. Große Hoffnungen ruhen auf geplanten Fabriken in China, Südkorea und Indien.

Skepsis und Misstrauen im eigenen Land

In Russland selbst hat Sputnik V dagegen nicht den besten Ruf. Impfen geht in Moskau zwar im Kaufhaus, doch laut Umfrage des Lewada-Zentrums will sich nur eine Minderheit von 30 Prozent mit Sputnik impfen lassen. Auf der Suche nach Ursachen meinen Soziologen, der Impfstoff werde als staatliches Produkt angepriesen, doch die Erfahrung lehre Russen und Russinnen, von Angeboten des eigenen Staates besser Abstand zu halten.
Eine bronde Frau mit roter Weste und Klemmbrett im Arm schaut einem Mann im blauen Kapuzenpulli über die Schulter, der offenbar gerade ein Formular ausfüllt.
Ein Impfstoff, der als staatliches Produkt angepriesen wird: Davon wollen die meisten Russen nichts wissen.© imago images / ITAR-TASS / Mikhail Metzler
Auch fällt auf, dass Präsident Putin sich noch nicht hat impfen lassen. Und es gelte: Das Verhältnis zur Wahrheit ist nach Jahrzehnten der Propaganda einfach kaputt, analysiert die Politologin Jekaterina Schulman auf ihrem Youtube-Kanal:
"Die staatliche Propagandamaschine hat sich selbst besiegt. Sie hat, um ihre irren Erzählungen attraktiver zu machen, ihre Zuschauer sehr stark mit Verschwörungen gefüttert. Hat über viele Jahre erzählt, dass die Dinge nicht so seien, wie sie scheinen. Dass alle betrügen. Sie hat die Leute mit irrationalem, anti-wissenschaftlichem, anti-aufklärerischem Material gefüttert."
Wenn ständig behauptet wird, die Pandemie sei kein ernstes Problem, könne man nicht erwarten, dass Menschen zur Impfung bereit seien.

Serbien vertraut auf Russland und seinen Impfstoff

Ganz anders reagieren die Menschen in Serbien auf Sputnik V. Serbien gehört zu den Ländern, die genügend Impfstoff haben, die Bürgerinnen und Bürger können sogar auswählen, mit welchem Vakzin sie sich impfen lassen wollen. Neben Biontech/Pfizer und Astra Zeneca stehen auch Vakzine aus China und Russland in großen Mengen zur Verfügung. 47 Prozent der Serben aber wählen Sputnik V.
Bereits am 24. Dezember ließ sich Ministerpräsidentin Ana Brnabić pieksen, genauso wie Ivica Dačić, der Parlamentsvorsitzende, der im Fernsehen verkündete:
"Mit diesem Akt wollen wir das Vertrauen der Bevölkerung in die Impfung stärken. Vor allem wollen wir vielen Verschwörungstheorien entgegenwirken, die in den letzten Jahren im Umlauf waren."
Eine große Medienkampagne folgte, die Werbetrommel rührten die Politiker selbst. Jedes Mal, wenn ein Flieger die begehrte Ware nach Belgrad brachte, hielt Präsident Vučić am Flughafen eine Rede an die Nation. Am 19. Januar begann die Massenimpfung: Messehallen, Krankenhäuser und Konzerthallen wurden in Impfzentren umfunktioniert, der Andrang und die Qual der Wahl waren groß.
"Ich habe den chinesischen Impfstoff bekommen. Alles gut, ich habe keine Nebenwirkung," sagt eine Frau mittleren Alters in den Messehallen. Ihr Nachbar fügt hinzu: "Ich nehme den russischen oder den chinesischen. Wenn es Russland und China nicht gäbe, würde die Welt einstürzen."
Das Vertrauen in "Mütterchen Russland" ist traditionell in Serbien groß, das Vertrauen in Sputnik V auch. Alle Impfstoffe sind von der serbischen Arzneimittelagentur genehmigt worden.
Die Virologin, Dr. Ana Gliglić erklärt, warum sie an das russische Vakzin glaubt: "Als in Russland der Impfstoff entwickelt wurde, habe ich diese Arbeit in einer namhaften Ärztezeitschrift verfolgt. Was sie da schrieben, hat mich überzeugt. Kritische Stimmen, vor allem aus dem Westen, bemängelten zu wenige Tests an Menschen. Jedoch im November letzten Jahres wurde das Vakzin an über 18.000 Menschen getestet und damit die Kritik widerlegt."

Serbien hat eine der höchsten Impfquoten der Welt

Am 10. Februar meldet die BBC: Nach Großbritannien ist Serbien das Land mit der höchsten Zahl geimpfter Personen pro Einwohner in Europa. Inzwischen haben 20 Prozent der serbischen Bürger die erste Impfung erhalten, zehn Prozent sogar schon die zweite.
Durch Vučićs clevere Verhandlungen mit Ost und West hat sich das Sieben-Millionen-Einwohner-Land bis jetzt mehr als 6,5 Millionen Impfdosen gesichert. Sinopharm aus China, Sputnik aus Russland, Biontech/Pfizer und AstraZeneca stehen zur Wahl.

In ganz Serbien werden täglich über 10.000 Menschen geimpft. Die über 65-Jährigen wurden von Anfang an bevorzugt behandelt. Wer nicht mit dem Internet vertraut ist, kann eine kostenfreie Telefonnummer anrufen, seine Personaldaten durchgeben, einen Impfstoff wählen – und warten, bis der Rückruf kommt. Der 78-jährige Slobodan Ilić bekommt die zweite Dosis in ein paar Tagen.
In den Belgrader Messehallen sind Kabinen für Corona-Impfungen aufgebaut. Außerdem Tische zur Registrierung der Impflinge. Vor den Kabinen warten Menschen mit Mund-Nasen-Schutz.
Serbien hat eine der höchsten Impfquoten weltweit.© BETAPHOTO / Milan Obradovic
"Habe mich telefonisch angemeldet, einen Monat gewartet, dann habe ich Sputnik bekommen. Es waren viele Menschen da, alles ruhig, schnell ist es gegangen. Ich sollte 15 Minuten warten, bin aber gleich nach fünf Minuten aufgestanden, ich fühlte mich gut. Am Sonntag ist die zweite Impfung dran."
Die Belgrader Hallemessen sind das größte Impfzentrum des Landes. Draußen knospende Bäume, drinnen viele Menschen, entspannte Atmosphäre, in kleinen Zellen wird geimpft. Krankenschwester Milena Mikić ist kein bisschen gestresst:
"Nach der Impfung bleiben die Leute kurz sitzen, Gott sei Dank ist meistens alles okay – und das war es."

Hohe Infektionszahlen trotz Impfungen

Andererseits zeigt sich Belgrad gerade wuselig und quirlig – als ob es Corona gar nicht gäbe. Besonders wenn die Temperaturen es erlauben, füllen sich Cafés und Restaurants, man schlendert durch in der Innenstadt. Das mag der Grund dafür sein, dass die Zahl der Neuinfizierten trotz Impfungen hoch ist. Dagegen setzt die Regierung auf Tempo. Das Ziel ist es, bis Ende Mai die Herdenimmunität erreicht zu haben.
Der clever handelnde, aber auch autoritär regierende Präsident Vučić sonnt sich in seinem Diplomatie-Erfolg. Mit Putin ist er "per du", Chinas ersten Mann Xi nennt er "meinen Bruder", auf Frau Merkel schwört er – sein Balancieren zwischen Ost und West ist Programm.
Vučićs letzter Coup: Bereits im Mai wird mit der Abfüllung von Sputnik in Serbien begonnen, damit der Impfstoff dann von Serbien aus in der Region vertrieben werden kann. Vor Jahresende startet dann die vollständige Produktion. Aber nicht nur das: Zusammen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und China wird in Serbien eine Fabrik gebaut, in der am Jahresende der chinesische Impfstoff Sinopharm hergestellt wird.
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