Russlandpremiere "Matilda"

Der Zar als Mensch

Der deutsche Schauspieler Lars Eidinger bei der Vorstellung des Films "Matilda" in Russland.
Der deutsche Schauspieler Lars Eidinger spielt den letzten Zaren Russlands, Nikolaus II, im umstrittenen Film "Matilda" © pa/dpa/Sputnik/Novozhenina
Sabine Stöhr im Gespräch mit Dieter Kassel  · 23.10.2017
Vor der Russlandpremiere des umstrittenen Films "Matilda" ist die Sorge um Angriffe durch ultrakonservative Kritiker groß. Moskau-Korrespondentin Sabine Stöhr allerdings nennt den Film "harmlos". Die filmische Darstellung des letzten Zaren Nikolaus II rühre aber offenbar an Tabus.
"Ich habe den Film gesehen, auch meine Kollegen. Und wir sind hinterher 'raus und dachten: 'Okay, viel Lärm um nichts. Eigentlich", sagt Moskau-Korrespondentin Sabine Stöhr im Deutschlandfunk Kultur über den umstrittenen Film "Matilda", der diese Woche in den russischen Kinos startet. "Es ist die Tatsache, dass der Zar als Mensch dargestellt wird, als Mensch, der zerrissen ist zwischen Leidenschaft und seiner Verantwortung für das Land." Stöhr sprach von sehr geschmackvollen Liebesszenen. "Lars Eidinger gibt denen auch sehr viel Wärme, da ist überhaupt nichts Obszönes dabei." Die Korrespondentin glaubt, der eigentliche Stein des Anstoßes sei für einige reaktione Kreise, dass der Zar von seinem Thron herunter geholt und als Mensch dargestellt werde. (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Dieter Kassel: In Sankt Petersburg findet heute die offizielle Russlandpremiere des Films "Matilda" statt. In Deutschland, wo er in zwei Wochen anläuft, wird er "Mathilde" heißen, und dieser Spielfilm erzählt eigentlich nur eine Liebesgeschichte. Allerdings sind die Liebenden, vor allen Dingen, was den männlichen Part angeht, nicht irgendwelche Liebenden. Es geht um den letzten Zaren Russlands, Nikolaus II., und seine Liebe zu einer polnischen Tänzerin, zu eben dieser Matilda. Das zeigt der Film. Übrigens hat es diese Affäre im Film wie in der Realität auch gegeben, bevor Nikolaus II. dann wirklich den Zarenthron betrat, und insofern könnte man eigentlich davon ausgehen, dass dieser Film niemanden groß aufregt.
Dem ist nun aber überhaupt nicht so. Weite Kreise der russischen Gesellschaft regen sich sehr auf über diesen Film. Es hat bereits die Drohung gegeben, heute in Petersburg bei den Vorführungen, es wird zwei geben, vormittags und abends, könnte es zu einem Brandanschlag kommen. Es hat Morddrohungen gegen Teile der Filmcrew gegeben, unter anderem auch gegen den deutschen Hauptdarsteller Lars Eidinger, der eben den Zaren spielt in diesem Film. Morddrohungen, die er durchaus sehr ernst nimmt. Es herrscht da große Beunruhigung, und all das zusammen ist Grund genug für uns, über diesen Film und die heutigen Vorführungen mit Sabine Stöhr, Hörfunkkorrespondentin in Russland, zu reden. Frau Stöhr, einen schönen guten Morgen!
Sabine Stöhr: Guten Morgen!
Kassel: Ich kann verstehen, dass Lars Eidinger als persönlich Betroffener und auch andere Schauspieler das sehr ernst nehmen. Aber wie ernst sind diese Drohungen wirklich zu nehmen, wie sehr kochen die Gemüter gerade hoch in Russland?
Stöhr: Da kocht schon einiges. In Russland würde ich nicht sagen, das sind einige Gruppen, ultranationale, fundamentalistische Gruppen, die ein Anliegen haben, die durch diesen Film, also dadurch, dass die Ehre des Zaren verletzt wird, es so sehen, dass auch die Ehre des russischen Volks verletzt wird. Die laufen da richtig Sturm, und das schon seit – eigentlich kann man sagen, hat es vor einem Jahr gestartet. Dann gab es im Frühjahr – im Februar sollte der Film ja eigentlich schon anlaufen –, gab es schon die ersten Attentate.
Ein Van ist in Jekaterinburg, wo die Zarenfamilie 1918 umgebracht worden ist, ist ein Van mit Gasflaschen in ein Kino reingefahren, ist explodiert. Zum Glück war das Kino leer, es sind keine Menschen zu Schaden gekommen. Es gab auf den Regisseur, Alexei Utschitel, und sein Büro immer wieder Anschläge. Da brannten Autos, da flogen Molotowcocktails. Also da ist schon ordentlich was los, aber in einem bestimmten Kreis, würde ich mal sagen. Das ist jetzt nicht russlandweit.

Menschlicher Zar

Kassel: Aber ist denn diese Aufregung um den Film berechtigt, ist das wirklich Geschichtsklitterung oder ehrenrührig, einige sprechen auch von Pornografie – was wird denn da Schlimmes gezeigt?
Stöhr: Ich habe den Film gesehen, und auch meine Kollegen, und wir sind hinterher raus und dachten, okay, viel Lärm um nichts eigentlich. Es ist die Tatsache, dass der Zar als Mensch dargestellt wird, als Mensch, der zerrissen ist zwischen Leidenschaft und seiner Verantwortung, die er spürt für das Land. Es gibt Liebesszenen, die sind aber sehr geschmackvoll.
Lars Eidinger gibt denen auch sehr viel Wärme, da ist überhaupt nichts Obszönes dabei. Letztendlich glaube ich, ist der Stein des Anstoßes, dass der Zar sozusagen von seinem Thron runtergeholt wird und als Mensch dargestellt, die wir ja alle auch irgendwie sind. Und das scheint so psychologisch der Stein des Anstoßes zu sein, denn viele Russen betrachten ja den Zaren und letztendlich, muss man sagen, auch in seiner Nachfolge Wladimir Putin als Präsidenten als einen Menschen in einer anderen Sphäre weiter oben. Die kratzt man nicht an, die kritisiert man nicht, und die hat dann im Zweifel auch nichts Menschliches. Und hier im Film ist der Zar ganz menschlich.

Geschichte als heißes Eisen

Kassel: Es ist interessant, dass Sie jetzt diesen direkten Weg gerade gefunden haben vom letzten Zaren zum ersten Putin. Aber ist es nicht grundsätzlich so, das ist mein Eindruck langsam, dass Geschichte, gerade so die Geschichte, die, sagen wir mal, so zwischen 50 und 150 Jahre zurückliegt, in Russland immer noch so ein total heikles Thema ist. Das merkt man doch bestimmt auch im Moment an den Diskussionen rund um hundert Jahre Oktoberrevolution.
Stöhr: Ja, ein ganz heißes Eisen. Geschichte – ganz schwierig. Das liegt aber daran, dass Geschichte hier nie aufgearbeitet worden ist. Weder die Zarenzeit und die Monarchie, noch die Rolle der orthodoxen Kirche in der Zeit, oder auch später. Dann die Sowjetzeit, die Gräueltaten von Stalin. Da ist ja nichts aufgearbeitet worden, und viele Menschen leiden da noch drunter, sind traumatisiert. Das heißt, ich möchte nicht lügen, in jeder vierten Familie ist jemand von dem Regime von Stalin betroffen gewesen. Und da versucht jeder irgendwie mit zurechtzukommen, und andererseits gibt es eben Interessengruppen, die sich aus der Geschichte das rausnehmen, was sie brauchen, um ihre Macht zu festigen, und da gehört auch die russische Führung dazu, die den Patriotismus befeuert.
Und das mit der Oktoberrevolution und der Februarrevolution ist auch eine ganz heikle Geschichte, weil letztendlich die Februarrevolution 1917 ja die Monarchie beendet hat, also den Zaren gestürzt hat. Und der wird im Moment eben wieder sehr hochgehoben. Andererseits ist durch die Oktoberrevolution die Sowjetunion entstanden. Das wiederum war ja ein großes Drama, weil sie letztendlich ja dann auch zerfallen ist und damit das große Land zerfallen ist. Das hat Putin ja auch thematisiert. Also man weiß gar nicht so richtig, wie man sich zu diesen zwei Revolutionen stellen soll, und deswegen wird das hier auch gar nicht groß begangen. Es gibt auch keinen Staatsakt, man geht da sehr vorsichtig mit um. Es gibt einzelne Ausstellungen, einzelne Aufführungen, und das war es dann.

Zarentreue Gegnerin

Kassel: Um noch mal zurückzukommen auf den scheinbar unkomplizierteren Film, "Matilda" oder, deutscher Titel "Mathilde", spielt eigentlich in der Debatte um diesen Film auch die Politik eine Rolle? Hat sich der Kreml da positioniert?
Stöhr: Nein, der hat sich nicht positioniert. Das ist auch das Interessante an diesem Thema. Letztendlich hat sich eine Abgeordnete aus der Duma positioniert, das ist Natalja Poklonskaja. Die gilt als sehr zarentreu, sieht sich als Anwältin der Gesellschaft, die die Gerechtigkeit fördern will, bekannt geben will, was die Menschen wollen. Und die wollen eben nun mal nicht, dass die orthodoxen Heiligtümer beleidigt werden. Sie bezeichnet Lars Eidinger als Pornostar und hat bis zum Schluss gekämpft, dass der Film verboten wird.
Aber eigentlich ist sie keine einflussreiche Politikerin. Zudem ist der Film ja auch mit sieben Millionen Rubel, das sind etwa eine Million Euro, vom Staat gefördert worden, und der Regisseur, Alexej Utschitel, ist kein Oppositioneller, im Gegenteil. Ich nehme an, die russische Führung hat da jetzt einfach den Moment verpasst, unterschätzt, dass dieser Aufruhr vor einem Jahr von Natalja Poklonskaja losgetreten, anrichten kann, hat aber nie Position bezogen, weil die Gesellschaft eben so gespalten ist, weil es kein Geschichtsverständnis gibt, weil sie nicht aufgearbeitet wurde, die Geschichte. Und deswegen hat das Kulturministerium, um das Ganze zu beruhigen, den Film freigegeben, und da wird er jetzt offiziell am Donnerstag auch in den Kinos anlaufen.

Interesse bei den Zuschauern

Kassel: Könnte die Kritik an dem Film, was das angeht, vielleicht sogar nach hinten losgehen? Sagen nicht manche vielleicht auch junge Menschen in Russland, Gott, eigentlich interessiert mich so ein Historienschinken nicht, aber bei dem Theater will ich ihn jetzt doch sehen?
Stöhr: Es gibt sogar Menschen, die unterstellen Alexej Utschitel, er hat diese ganze Aufregung selbst angezettelt, um Werbung für seinen Film zu machen. Das glaube ich nun nicht. Fakt ist aber, dass es nie Werbung für den Film gab, weder im Staatsfernsehen, da lief der Trailer nicht, noch hingen irgendwie irgendwo Plakate. Und ich glaube, der Film bekommt eine ganze Menge Zuschauer, allein deswegen, weil es hier so hoch her ging. Aber wie gesagt, in einer bestimmten Gruppe, auf einer bestimmten Ebene – die meisten Russen haben das gar nicht mitbekommen.
Kassel: Herzlichen Dank. Sabine Stöhr war das live aus Moskau über den Film "Matilda", der, wir haben es gehört, wirklich zumindest in Teilen der russischen Gesellschaft die Gemüter hochkochen lässt, der heute seine offizielle Premiere – es gab Voraufführungen – in Sankt Petersburg erlebt und ab Donnerstag dann in den Kinos, die sich trauen, regulär in Russland zu sehen sein wird. In Deutschland kommt "Matilda", so wird er ja bei uns heißen, in zwei Wochen in die Kinos.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Der Kinofilm "Matilda" mit Lars Eidinger in der Hauptrolle startet am 2. November in den deutschen Kinos.

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