Russland und die Ukraine im Konflikt

Was auf dem Spiel steht

26:16 Minuten
Ein Schiff fährt unter der Brücke über die Meerenge von Kertsch.
Die Meerenge von Kertsch: Vor kurzem war der Ukraine-Konflikt vor der Küste der von Moskau vereinnahmten Halbinsel Krim eskaliert. © dpa/Sputnik/Alexey Malgavko
Von Thomas Franke · 11.12.2018
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Schüsse, gerammte Boote, verhaftete Seeleute, Kriegsrecht. Der Zwischenfall im Asowschen Meer hält uns in Atem. Doch wie weiter im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, in dem diese Eskalation nur ein Schritt von vielen ist – und mit welchen Folgen?
Das Hafenwasser in Mariupol erinnert an grauen Staub. Der Rand der Pier ist von Möwen zugekotet. Die blau-gelb gestrichenen Kräne sind zur See gedreht, stehen still. Wenn das so weiter gehe, sagt Hafenchef Alexandr Oleynik, entstehe sozialer Sprengstoff. Schon vor dem jüngsten Zwischenfall seien ihnen wegen der neuen Krim-Brücke über die Einfahrt ins Asowsche Meer 140 Schiffe weggebrochen, die zuvor regelmäßig Mariupol angelaufen hätten.
Mann im Profil mit kruzem grauen Haar und Anzug, in seinem Büro
Der Chef des Hafens in Mariupol Alexandr Oleynik© Thomas Franke
"Die Güter werden jetzt in ukrainischen Häfen weiter im Süden umgeschlagen, in Odessa und Tschernomorsk, im Hafen Juschne. Besonders Eisenerz. Wir haben eine Million Tonnen an den Hafen von Juschne verloren."
Das wirke sich negativ auf das Zusammenleben aus, beklagt Volodymyr Omelyan, Minister für Infrastruktur der Ukraine:
"Eine Menge Menschen in den Häfen werden ihre Arbeit verlieren, sie werden definitiv unzufrieden sein und jedem dafür die Schuld geben. Zuerst der Ukraine, dafür, dass sie ihre Jobs nicht schützen kann und ihr Recht, Geld zu verdienen. Und das stimmt zu 100 Prozent."

Mariupol und die russische Invasion

Mariupol ist Frontstadt, war 2014 umkämpft. Und auch heute ist sie mit Kontrollpunkten und Panzersperren an den Zufahrtsstraßen gesichert. Mariupol ist militärisch auf eine erneute Eskalation vorbereitet, versichern die Verantwortlichen.
Kaimauer am Meer
Der leere Hafen von Mariupol in der Ostukraine© Thomas Franke
Gesicherte Zahlen sind nicht zu bekommen. Experten gehen davon aus, dass Russland mehr als 60 Marineschiffe im Asowschen Meer hat, darunter auch Landungsboote, um Soldaten auf die andere, die ukrainische Seite des Meeres bringen zu können. Die Ukraine hat nach eigenen Angaben eine Handvoll kleinerer Kriegsschiffe noch aus sowjetischer Produktion und der russischen Marine nichts entgegen zu setzen.

Hören Sie auch das Interview mit Serhij Leshchenko, 38 Jahre jung und Abgeordneter im Ukrainischen Parlament. Margarete Wohlan hat ihn Anfang November auf einer Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung, auf der es um die Ukraine ging, getroffen.

Das kurze Gespräch mit ihm stimmt ein auf die Gefühlswelt dort – und zeigt den Stolz des jungen Politikers auf "sein" Parlament.
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Serhij Leshchenko am Mikrofon in Kiew bei einer Demonstration für die Amtsenthebung des ukrainischen Präsidenten Poroschenko im Dezember 2017 
© imago/Pacific Press Agency
Der Konflikt an Land wird von der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, beobachtet. Für die Beobachtung des Asowschen Meeres hat sie kein Mandat. Alexander Hug war bis vor kurzem stellvertretender Leiter der OSZE-Mission. Der Frage nach einer Ausweitung der Beobachtermission auf das Seegebiet weicht er aus.
"Die Waffen sind vor Ort. Die politische Lage in und um die Ukraine ist auch nicht stabil. Und deshalb glauben wir, dass es wichtig ist, dass man jeden Schritt nahe verfolgt. Und sobald es Anzeichen gibt für eine Eskalierung, dass man deeskalierende Maßnahmen einführt."
Zwischenfälle wie der vom 25. November, als Russland die Durchfahrt unter der Krim-Brücke versperrte, drei ukrainische Schiffe mit Gewalt festsetzte und 24 Seeleute festnahm, waren lange erwartet worden. Zum Beispiel von Andrii Klymenko, Chefredakteur des ukrainischen Portals "Black Sea News". Er beklagt seit langem, dass die NATO das Schwarze Meer Russland überlassen habe. Die Ukraine sei dem hochgerüsteten Nachbarn nahezu wehrlos ausgeliefert, beklagt Klymenko.
Hafenausschnitt, Militär-LKW fahren auf ein Schiff
Militärtransport im Hafen von Kertsch am Asowschen Meer© Thomas Franke
"Ich möchte, dass Ihre Hörer in Deutschland verstehen: Wenn es kein NATO-Schiff im Schwarzen Meer gibt, ist das ein Fenster der Möglichkeiten für eine Aggression Putins gegen die Ukraine von der See."

Russland und Georgien – aus Geschichte lernen

Rückblick: August 2008, Georgien ist im Krieg mit Russland und im Hafen der georgischen Schwarzmeerstadt Poti liegt die georgische Kriegsmarine auf Grund: Acht Schiffe, binnen weniger Minuten von russischen Jagdflugzeugen versenkt. Auch auf dem Landweg sind russische Soldaten Richtung Poti vorgestoßen, haben geplündert, Kontrollpunkte errichtet. 70 Kilometer weiter südlich, in der georgischen Hafenstadt Batumi, lag zu dieser Zeit ein US-Zerstörer, brachte Hilfsgüter.
Der Kapitän eines Schwimmkrans zieht sich ein kariertes Hemd über den nackten Oberkörper. Selbst seine Brusthaare sind ergraut. Den ganzen Tag waren seine Leute im Hafen von Batumi damit beschäftigt, die Hilfsgüter von dem US-Zerstörer abzuladen.
"Wissen Sie, wir sind ein sehr kleines Land. Die großen Staaten machen mit uns, was sie wollen. Ich will ja nicht grob sein, denn ich habe in Russland sehr viele Freunde, aber es war falsch von den Russen, ihre Stärke so auszuspielen."

Außerdem im "Weltzeit"-Interview: Anastasia Stanko, 32 Jahre jung, ist eine ukrainische Journalistin, Bloggerin und Mitbegründerin des Online-Fernsehsenders "hromadske". Sie ist auch Preisträgerin des "International Press Freedom Award 2018". Sie wird als "Vaterlandsverräterin" beschimpft, weil sie nicht nur über Krieg in der Ostukraine berichtet, sondern auch über verschleppte Reformen und Korruption in ihrem Land.

Margarete Wohlan wollte von ihr wissen, was für sie als Journalistin und für ihre Arbeit dieser Krieg bedeutet.
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© hromadske.ua
Vor zehn Jahren gingen die Männer auf dem Schwimmkran davon aus, dass die russische Schwarzmeerflotte kein US-Kriegsschiff angreifen würde. Sie behielten Recht. Die USA kündigten damals sogar an, zwei weitere Kriegsschiffe mit Hilfsgütern nach Georgien zu schicken. Zusätzlich waren damals ein deutsches und ein spanisches Schiff auf dem Schwarzen Meer.
Dabei blieb es allerdings auch. Die Georgier und auch die Ukrainer erhofften sich schon damals viel mehr von der NATO, einen verbindlichen Maßnahmenplan für eine baldige Aufnahme in das westliche Militärbündnis nämlich. Im Frühjahr 2008, vor dem Georgienkrieg, hatten die NATO-Mitglieder der Ukraine und Georgien diesen Membership Action Plan verweigert, und dabei bleiben sie auch nach dem Georgienkrieg.

Nato steht in der Ukraine für: "No Action, Talking only"

Der Infrastrukturminister der Ukraine, Volodymyr Omelyan, stellt sich auf eine lange Auseinandersetzung mit Russland ein.
"Wie Churchill mal gesagt hat: Ja, der Frieden kommt, wenn wir den Krieg gewonnen haben. Wir sollten den Krieg gewinnen, und dann wird es Frieden geben. Es ist ja nicht so, dass die Ukraine Russland angegriffen hätte. Die Ukraine hat nicht Moskau besetzt. Russland hat sich die Krim genommen und den Ostteil der Ukraine. Sie haben es mit Georgien in 2008 gemacht, und dann haben sie gemerkt, dass westliche Länder sehr zurückhaltend reagiert haben. Das ist kein großes Ding, wir können Georgien besetzen, am nächsten Tag besetzen wir die Ukraine, vielleicht das Baltikum. Niemand wird reagieren."
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg äußert sich zu den Spannungen zwischen der Ukraine und Russland.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg äußert sich zu den Spannungen zwischen der Ukraine und Russland.© AFP / Emmanuel DUNAND
NATO, das steht für viele hier für "No Action – Talking Only". Also nichts als heiße Luft. Und tatsächlich, nicht mal ein Jahr nach dem Krieg in Georgien drückte die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton gemeinsam mit ihrem russischen Kollegen Sergej Lawrow symbolisch einen Knopf für den Neustart der russisch-amerikanischen Beziehungen.
Im Baltikum hat die zögerliche Haltung gegenüber Russland viele Menschen in Alarmbereitschaft versetzt. Grenznahe Bewohner bereiten derzeit Bunker für sich und ihre Familien vor. Sie trauen der russischen Regierung so ziemlich alles zu. Dabei sind Estland, Lettland und Litauen Mitglieder in der EU und der NATO.
Sie fürchten, was auch andere Beobachter umtreibt: Dass die Regierung unter Putin die Verteidigungsbereitschaft der NATO an den Grenzen des Baltikums mit einem vergleichsweise kleinen Angriff austesten könnte. Indem sie zum Beispiel eine Grenze um ein paar hundert Meter verschiebt.

Russland bedroht die Sicherheit des Westens

Die Frage ist: Wird die NATO deshalb den Bündnisfall ausrufen? Wenn ja, läuft die Eskalation, wenn nicht, wäre die NATO als Papiertiger entlarvt.
Dementsprechend sorgenvoll äußert sich der ehemalige ukrainische Premierminister Arsenij Jazenjuk:
"Mir scheint, dass weder die NATO noch die EU realisiert haben, dass Russland eine Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit darstellt. Schauen Sie, Agenten des russischen Geheimdienstes GRU haben angefangen, die militärische und nationale Sicherheitsinfrastruktur der EU und der freien Welt anzugreifen. Schauen Sie, was in Salisbury passiert ist. Schauen Sie, was mit dem Passagierflugzeug MH17 passiert ist. Es geht nicht nur um die Ukraine. Es geht um die Sicherheit der Europäischen Union und der NATO."
Ukrainische Soldaten patrouillieren in Schyrokyne, 25 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt.
Ukrainische Soldaten patrouillieren in Schyrokyne, 25 Kilometer vom Asowschen Meer entfernt. © AFP / Sega VOLSKII
Mit der Eskalation am 25. November am Asowschen Meer stellt sich auch erneut die Frage, ob Sanktionen geeignet sind, Russlands Aggression einzudämmen. Die Sanktionen gegen Russland wirken langfristig, sagt Tatjana Mitrowa, eine der führenden Energie-Expertinnen Russlands, vor allem auf Russlands Haupteinnahmen, die Öl- und Gaswirtschaft. Mitrowa forscht an der Skolkovo Management-Hochschule in Moskau.
"Direkt machen sich die Sanktionen in erster Linie bei den Kapitalkosten bemerkbar. Früher konnten russische Unternehmen im Ausland einfach und schnell Kredite aufnehmen, die Banken standen Schlange, um ihnen Kredite zu geben, und das zu niedrigen Zinsen, drei bis vier Prozent. Jetzt sind es 13 bis 14 Prozent, und es ist ein riesiges Problem, Banken und Fonds davon zu überzeugen, dass die Kreditvergabe nicht riskant ist."
Auf das tägliche Geschäft hätten die Sanktionen bisher keinen großen Einfluss, so Mitrowa.
"Das sorgt bei den russischen Unternehmen und der politischen Führung Russlands für das Gefühl, dass die Sanktionen nicht funktionieren. Aber der Schein trügt. Die Sanktionen funktionieren. Doch nicht kurz-, sondern langfristig. Sie verengen Schritt für Schritt die Zukunft des Öl- und Gassektors."

Sanktionen – wie der Würgegriff einer Anakonda

Das gilt vor allem für die Förderung von Schieferöl in der Arktis ab 2025.
"Es ist wie der Würgegriff einer Anakonda, diese Methode wurde auch gegen die Sowjetunion angewandt, als in den 70er-Jahren Sanktionen eingeführt wurden. Russland macht zur Zeit eine sehr ähnliche Erfahrung."
Die Sowjetunion ist schließlich auch zugrunde gegangen, weil Technologien fehlten und der Staat alle Mittel in Rüstung steckte. Es ist also kein Wunder, dass ukrainische Politiker, wie der Ex-Premier Arzenij Jazeniuk, klare Forderungen formulieren.
"Die Sanktionen müssen beibehalten werden. Kein Zweifel. Und es ist wichtig, dass die EU Einheit demonstriert."
Ein ukrainischer Soldat auf einem Militärschiff im Hafen von Mariupol. Im Hintergrund fährt ein Patrouillenboot vorbei.
Ein ukrainischer Soldat auf einem Militärschiff im Hafen von Mariupol.© AFP / Sega Volskii
Doch ausgerechnet Deutschland verhindert die Einheit der EU mit dem Bau der Gaspipeline Nord Stream 2. Derzeit fließt ein Teil des russischen Gases noch durch alte Leitungen in der Ukraine nach Westen. Das durch Korruption, Zerfall, Krieg und Oligarchenwesen geschwächte Land ist auf die Transitgebühren dringend angewiesen. Auch garantiert die Rolle als Transitland – zumindest zu einem gewissen Teil – für die Sicherheit des Landes.
Russland ist beim Gastransit noch auf die Ukraine angewiesen. Fällt das weg, werde die Ukraine endgültig nahezu schutzlos, fürchten nicht nur Ukrainer. Auch im Baltikum und in Polen warnen Politiker aller Fraktionen vor Nord Stream 2. Schwammigen Versprechen Putins, auch weiterhin einen Teil des Gases durch die Ukraine zu leiten, schenken sie keinen Glauben. Zu oft habe Putin sein Wort gebrochen. Volodymyr Omelyan, der Minister für Infrastruktur:
"Es gibt die feste Meinung, dass es Putins Minimalplan war, die Ukraine entlang des Dnjepr zu besetzen, bis zum linken Flussufer zu gehen. Das hat bisher nicht geklappt."
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