"Russland bewegt sich zwischen Demokratie und Autokratie"

Moderation: Matthias Hanselmann · 19.08.2011
20 Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch antireformerischer Kräfte in Russland ist immer noch unklar, in welche Richtung sich das Land künftig entwickelt, sagt der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau, Reinhard Krumm.
Matthias Hanselmann: Heute vor 20 Jahren, am Montag, den 19. August 1991, wiederholt Radio Moskau ab sechs Uhr früh in kurzen Abständen immer wieder ein- und dieselbe Meldung:

"Aufgrund einer Erkrankung des Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, die es ihm unmöglich macht, sein Amt auszuüben, übernimmt Vizepräsident Janajew dessen Funktionen. Ein staatliches Komitee für den Ausnahmezustand der UdSSR sei gebildet worden, das einschneidende Regelungen für Moskau, Leningrad und bestimmte Sowjetrepubliken angeordnet habe."

Hanselmann: Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow war an diesem Tag bei bester Gesundheit im Urlaub auf der Krim. Und Boris Jelzin, wenige Wochen vor dem Putschversuch zum Präsidenten gewählt, bekommt die Sache schnell in den Griff., auf einem Panzer vor dem Parlament ruft er in die Mikrofone und Kameras der internationalen Presse: "Dieser Umsturz ist durch nichts zu rechtfertigen, wir haben es mit einem rechten, reaktionären, verfassungsfeindlichen Umsturz zu tun." So schnell und spukhaft, wie der Putsch begonnen hatte, war er auch schon wieder vorbei:

Die Reformgegner hatten viel zu wenig Unterstützung, nicht einmal das Fernsehen hatten sie in ihrer Macht. Dr. Reinhard Krumm ist Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau, mit ihm sprechen wir jetzt aus Anlass dieses Putschversuches vor 20 Jahren. Guten Tag!

Reinhard Krumm: Schönen guten Tag!

Hanselmann: Herr Krumm, ist heute in Moskau irgendetwas zu bemerken von diesem Tag, wird in irgendeiner Form daran erinnert?

Krumm: Die Presse hat ein bisschen darüber berichtet, schon in den letzten Tagen, es sind einige neue Informationen über den Putsch ans Tageslicht gekommen, aber eigentlich nichts Überwältigendes. Das Einzige vielleicht, was man erneut tut: Man schaut, ob der Michail Sergejewitsch denn alles richtig gemacht hätte damals oder ob es da viele Fehler gemacht hat. Man schaut einfach noch mal zurück: Was haben diese 20 Jahre eigentlich gebracht?

Hanselmann: Sie kamen damals, Ende 1991, nach Moskau. War damals noch etwas von dem Putschversuch zu spüren, oder war das gar kein Thema mehr, schon wenige Monate danach?

Krumm: Das war kein Thema mehr. Das Land bereitete sich darauf vor, auseinanderzufallen, wenn man das so sagen kann, Moskau selber darauf, allein als die Russische Föderation zu funktionieren, und am 25. Dezember dankte Michail Sergejewitsch Gorbatschow ab, und am Roten Platz wurde die rote Fahne eingeholt und die neue trikolore aufgezogen, allerdings vor relativ wenig Zuschauern. Das ging alles sehr, sehr ruhig zu.

Hanselmann: Der Reformkurs Gorbatschows sollte durch diesen Putsch zunichte gemacht werden, die alte Einheit des Sowjetsystems sollte erhalten und gestützt werden. Heute wissen wir, dass schon wenig später die Sowjetunion sich komplett aufgelöst hat, Sie haben es geschildert. Wie steht es heute in Russland mit der nennen wir es mal Sowjetnostalgie, wie steht es um die Kräfte, die zurückwollen zum alten Imperium?

Krumm: Also wir reden sicherlich über Russland, die das möglicherweise wollen. Es ist tatsächlich erstaunlich, diese 20 Jahre werden genutzt, um so ein bisschen Sinnbildung zu betreiben: Was hat Russland diese letzten 20 Jahre geschafft? Und wie Sie richtig fragen, gibt es auch durchaus eine gar nicht so kleine Minderheit, die eigentlich bedauernd zurückschaut, und nicht nur die Älteren, die Rentner, die die angeblich goldene Zeit von dem Generalsekretär Breschnew mitgemacht haben – wir wissen, dass sie wahrlich nicht so golden war –, sondern auch andere, die der Meinung sind, da sind schwere Fehler gemacht worden, man hätte die Sowjetunion erhalten können, und die würde heute wesentlich besser dastehen als Russland heute.

Hanselmann: Sie waren ja selbst mehrere Jahre für die Friedrich-Ebert-Stiftung in Zentralasien. Wie schaut es denn in den ehemaligen Ländern der Sowjetunion aus, also außerhalb von Russland, mit der Sehnsucht nach dem alten Imperium?

Krumm: Auch da ist es gespalten. Man muss sagen, gerade in Zentralasien ist den dortigen, damaligen Generalsekretären der jeweiligen Republik die Unabhängigkeit sozusagen in den Schoß gefallen und die wussten anfangs gar nicht, was sie damit machen sollen, wohlwissend, dass doch eine Menge Geld auch aus Moskau zu ihnen kam. Gleichwohl ist natürlich auch eine Menge aus den Regionen nach Moskau selbst geflossen, keine Frage. Dort ist der Lebensstandard sicherlich gefallen, vielleicht mit der Ausnahme von Kasachstan, aber man darf nicht vergessen: Es geht nicht nur um die berühmte Wurst, sondern insgesamt gibt es auch einen nicht geringen Teil der Bevölkerung, die sehr froh sind, endlich unabhängig zu sein, endlich ihre Sprache sprechen zu können, endlich nicht ihr Schicksal in Moskau entscheiden zu lassen. Also möglicherweise sind dort die Feiern wesentlich fröhlicher als in Moskau, wobei – in Moskau gibt es keine Feiern.

Hanselmann: Vladimir Putin hat der Roten Armee ihre rote Fahne wiedergegeben, hat dem Land die sowjetische Nationalhymne wiedergebracht, worüber Boris Jelzin dermaßen erbost war, dass er seinen Nachfolger Putin das einzige Mal öffentlich kritisierte. Für Putin war der Zusammenbruch der Sowjetunion schließlich auch, wie er mal sagte, die größte geopolitische Katastrophe in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das sind ja starke Zeichen und Worte und jeweils stark rückwärtsgerichtet. Wie groß ist denn der Einfluss der von Ihnen eben genannten rückwärtsgerichteten Kräfte heutzutage in Russland, in Moskau?

Krumm: Ich würde das als doch gering bezeichnen. Inzwischen – 20 Jahre ist ja gar nicht so eine geringe Zahl, es ist eine gute Generation – sind viele in Russland auch davon überzeugt, dass es vermutlich denn doch gar nicht so schlecht ist, nun doch die Russische Föderation zu haben. Eine Wiederherstellung der Sowjetunion kann man sich beileibe nicht vorstellen, und man fürchtet ja auch, genau wie damals in der Sowjetunion, eben doch einen Abzug der Mittel auch aus dem Zentrum und damit eine Dotierung anderer Republiken. Nein, ich glaube insgesamt, man hat sich damit zurechtgefunden: Russland soll so bleiben, wie es ist. Wenn ich noch hinzufügen darf: Die Friedrich-Ebert-Stiftung hat vor Kurzem mit ihrem Institut für Soziologie eine Umfrage gemacht genau zu dem Thema, 20 Jahre Russische Föderation, und ungefähr 60 sind der Meinung, das läuft auch alles ganz gut so, aber immerhin eben auch 40 Prozent sind der Meinung, das läuft alles nicht so gut – wobei, das sind innenpolitische Probleme, soziale Gleichheit et cetera, et cetera.

Hanselmann: Bei der Gelegenheit: Wie stark ist denn heute ein, nennen wir es mal, russisches Nationalgefühl ausgeprägt, besonders bei den jüngeren Leuten, die vielleicht die Sowjetunion gar nicht mehr bewusst erlebt haben?

Krumm: Das ist eine prächtige Frage. Tatsächlich hat sich die Zahl derjenigen – ich beziehe mich auf diese Umfrage –, die Russland oder die Russische Föderation sehen als ein Land, in dem alle Nationalitäten gleichzeitig und gleichberechtigt wohnen dürfen, sollen, das verringert sich. Das heißt, es gibt tatsächlich einen Anstieg des Russischen in der Russischen Föderation, und die Identität, also was ist denn das Russland heute eigentlich – die Frage ist bei Weitem nicht geklärt, und mancher Ausländer und vor allen Dingen viele Russen selber schauen sehr vorsichtig und mit Beunruhigung auf die Erörterung dieser Frage.

Hanselmann: Der Korrespondent der "Berliner Zeitung" Christian Esch schreibt heute, Russland sei weder zurück zur Diktatur gegangen, noch habe es eine Demokratie entwickelt, Russland sei ein Zwitter. Würden Sie das auch so sehen?

Krumm: Das ist glaube ich sehr gut formuliert, tatsächlich: Russland bewegt sich zwischen Demokratie und Autokratie, und das macht das Land so unberechenbar für den Westen, aber auch für das Land selbst, für die Bürger, weil unklar ist, wo der Weg hingeht. Das ist zwar nichts Neues für die russische Geschichte, das kennen wir schon seit langer Zeit, aber in diesem Fall: Im Verbund einer globalisierten Welt ein so großes europäisches Land, das immer noch nicht recht entschlossen hat sich, wohin es geht, ist natürlich durchaus nicht beruhigend.

Hanselmann: Wie erleben Sie denn Moskau und Russland und diese Unberechenbarkeit, wie Sie es eben genannt haben, aus Ihrer ganz persönlichen und konkreten Sicht als Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau?

Krumm: Ein Grundpfeiler eines demokratischen Staates ist Rechtsstaatlichkeit. Und damit tut sich Russland eben nach wie vor schwer. Früher hieß die berühmte Frage, wer ist schuld, und heute ist die Frage, wer hat es erlaubt, also wer hat etwas erlaubt, warum darf etwas durchgehen und etwas anderes nicht? Das ist schwer zu begreifen. Und die Ebert-Stiftung, genau wie alle anderen Nichtregierungsorganisationen, sind immer mal wieder gefragt, etwas zu erklären, wobei eigentlich nichts zu erklären ist. Und man kann sich nicht immer auf Recht und Gesetz dabei berufen. Das hat eben auch etwas damit zu tun, dass man – und der Staat vor allen Dingen – nicht so recht weiß, wohin. Ohne Rechtsstaatlichkeit ist das halt sehr, sehr schwierig, eine Grundsicherheit vor allen Dingen für die Bürger zu gewährleisten.

Hanselmann: Über Russland 20 Jahre nach dem gescheiterten Putschversuch antireformerischer Kräfte am 19. August 1991 habe ich gesprochen mit Reinhard Krumm, dem Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau. Vielen Dank, Herr Krumm!

Krumm: Gern!

Hanselmann: Schönen Tag noch!

Krumm: Danke schön!

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