Russen müssen immer singen

Von Stefan Keim · 14.01.2011
In ihrer "Kirschgarten"-Inszenierung versucht Karin Henkel, im Lächerlichen das Traurige zu entdecken - und umgekehrt. Doch trotz hinreißender Einzelleistungen gerät das Stück als Ganzes zu komödiantischem Kleinholz.
Der Streit zwischen Tschechow und dem Regisseur Stanislawski um die Uraufführung herum bestimmt bis heute die Aufführungsgeschichte des "Kirschgartens". Der todkranke Autor hielt sein letztes Werk für eine Groteske, eine Farce sogar, der Theatermacher glaubte darin die Tragödie der Menschheit zu erkennen. Karin Henkel versucht, diese beiden Pole zu vereinen, im Lächerlichen das Traurige zu entdecken und umgekehrt. Mit manchen ausgezeichneten Schauspielern gelingt das häufig, besonders gut in einigen Nebenrollen.

Yorck Dippe zeigt den Büroangestellten Jepichodow als trotteligen Unglückswurm, der kleine Katastrophen magisch anzieht. Alles geht ihm kaputt, er rennt ins Schlagzeug, ein Tisch bricht zusammen, und stets ist dann eine dünne Stimme zu hören: "Ich war´s nicht." Schließlich schickt ihn die erdig-pragmatische Warja (wunderbar Lina Beckmann) in die Ecke, dahin, wo es dunkel ist, weg aus der allgemeinen Wahrnehmung. Dort wartet Jepichodow, bis er wieder mitmachen darf, schüchtern macht er die Tänze mit, ein Ausgestoßener, der demütig auf seine Chance wartet, wieder geduldet zu werden.

Später will Warja ein Rad schlagen. Sie setzt an, die Hände sind am Boden, die Beine in der Luft, da verliert sie mittendrin den Schwung. Sie platscht auf den Bauch, was als Zeichen des Lebensmutes gedacht war, wird zum Symbol des Scheiterns. Sie könnten einem leid tun, die Warjas und Dunjaschas, die Gajews und Trofimows. Wenn sie nicht so lustig wären in ihrem Zappeln und Hoffen. In manchen Zeichentrickfilmen marschieren Figuren in der Luft über einem Abgrund. Sie fallen erst, als sie hinunter sehen. So ähnlich sind die Tschechow-Menschen in Karin Henkels Kölner "Kirschgarten"-Inszenierung. Deshalb feiern sie ständig, sie hüpfen, lachen, saufen. "Russen müssen immer singen", sagt eine von der Gutsbesitzerin Ranjewskaja aus Paris mitgebrachte Zauberkünstlerin. Sie hat Recht. Diese Russen müssen singen. Sonst würden sie ihre Verlorenheit erkennen.

An solchen Bildern und Charakterstudien ist der Abend reich. Lena Schwarz hebt als Ranjewskaja zu einem Lamento über den gefährdeten Kirschgarten an und glaubt sich plötzlich selbst nicht mehr. Sie sagt die Sätze noch einmal, anders, sie klingen nicht authentischer. Da steht sie nun, unfähig, ihre Gefühle und Gedanken zu artikulieren, sich selbst fremd geworden. Auch Charly Hübner als Aufsteiger Lopachin kennt solche Momente, in denen ihm die Welt verwischt. Er hat den Kirschgarten gekauft, kann endlich die erträumten Ferienhäuser bauen, seine Zukunft gestalten. Zugleich tut es ihm entsetzlich leid, er hätte gern verloren oder zumindest noch ein paar Jahre gewartet. Als er die Ranjewskaja duzt, weil sie nun seinesgleichen ist, zerbricht damit ein Teil seiner Identität. Von hier an wird nichts mehr so sein wie früher.

Es gibt keinen Weg zurück. Das zeigt Kathrin Froschs Bühnenbild von Anfang an. Erde bedeckt die Spielfläche, der Kirschgarten ist längst Geschichte. In der Mitte gibt es eine kleine Drehbühne. Darauf klettern die verschuldeten Alteigentümer und posieren, als wären sie Gestalten einer Spieluhr aus längst vergangenen Zeiten. Karin Henkel schafft eine Atmosphäre zwischen Nostalgie und Erbarmungslosigkeit, die zum "Kirschgarten" ausgezeichnet passt. Aber die Inszenierung hat auch Längen, nicht alle Schauspieler erreichen das gleiche Niveau. Matthias Bundschuh bleibt als Ranjewskajas dichtender Bruder Gajew zu sehr auf einem Ton, ein weltfremdes Weichei, das schlaff herum hadert.

Doch leider wird bei aller Lust an hinreißenden Einzelleistungen der "Kirschgarten" als Ganzes zu komödiantischem Kleinholz. Er bleibt Spielerei und bekommt keine Dringlichkeit. Das Potential des Stückes bleibt ungenutzt als Spiegel einer Zeit, in der Krisendiskussionen und Finanznot die Kommunen lähmen, in der alles Kosten-Nutzen-Rechnungen unterworfen wird und Theaterintendanten reden müssen wie Betriebswirtschaftler. Am Schlosstheater Moers gibt es seit Beginn der Spielzeit einen schärferen "Kirschgarten", mit nur fünf Schauspielern, die sich in allen Rollen durch das Stück kämpfen. Eine surreale, die Kraft der Fantasie feiernde Aufführung, die in einem Ausbruch brutaler Gewalt endet. Lopachin zerstört mit der Axt ein Klavier, dass die Splitter fliegen.

Solche Augenblicke, die über sich selbst hinaus auf gesellschaftliche Zusammenhänge weisen, fehlen in Köln. Obwohl die zum "Theater des Jahres" gekürte Bühne ständig mit Kürzungsdebatten im Stadtrat zu kämpfen hat. Am Ende rennen alle – auch der "Gewinner" Lopachin – quer über die Bühne und zurück. Ein neues Leben wollen sie beginnen, aber sie wissen nicht, wann, wo und wie.

Link zur Aufführung am Schauspielhaus Köln