Rüdiger Safranski: "Hölderlin. Komm! Ins Offene, Freund!"

Glücksmomente schlagen um in Eiseskälte

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Buchcover Rüdiger Safranski "Hölderlin"
Buchcover Rüdiger Safranski "Hölderlin" © Hanser Verlag / Deutschlandradio
Von Michael Opitz · 19.12.2019
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Zu Lebzeiten wurde er wenig gelesen, die Hälfte seines Lebens hat er in einem Tübinger Turmzimmer verbracht: Friedrich Hölderlin ist die tragische Figur unter den deutschen Klassikern. Das zeigt auch Rüdiger Safranskis Biografie des Dichters.
An Böhlendorff schreibt Hölderlin am 4. Dezember 1801: "Aber Sie können mich nicht brauchen." Gegenüber dem Freund bekennt der Einunddreißigjährige, als Dichter gescheitert zu sein. In der ersten Lebenshälfte habe sich Hölderlin als Autor – so interpretiert Rüdiger Safranski die Situation in seiner dem Dichter gewidmeten Biographie – "in der Welt nicht bewährt."
Hölderlin wusste, so Safranski, dass es "schriftstellerischen Erfolg einstweilen nicht geben wird." Das war tragisch insofern, als sich Hölderlin mit seinem Wunsch, Dichter werden zu wollen, gegen den Willen der Mutter durchgesetzt hatte. Sie wollte, dass er Pfarrer wird.
Doch während er meinte, mit leeren Händen dazustehen, lagen mit seinem zweibändigen "Hyperion"-Roman und den um 1800 entstandenen Hymnen, Oden und Elegien jene Texte Hölderlins vor, die heute neben denen von Goethe und Schiller zu den klassischen Werken der deutschen Dichtung zählen. Hölderlin ist erst nach seinem Tode berühmt geworden, zu Lebzeiten wurde er nur von wenigen gelesen.

Enttäuscht von der Gegenwart

Die zweite Hälfte seines Lebens – es blieben ihm noch 36 Jahre – verbrachte Hölderlin im Tübinger Turmzimmer. Der Schreinermeister Ernst Zimmer, der den "Hyperion" kannte und den Dichter verehrte, hatte es ihm zur Verfügung gestellt.
Hölderlin war 1806 unter Anwendung von körperlicher Gewalt in eine psychiatrische Klinik eingeliefert worden. "Wahnsinn war in Raserey" umgeschlagen, wie es in einem Gutachten aus jenen Tagen heißt. 231 Tage später nahm ihn schließlich der Schreinermeister bei sich auf.
Eine vergleichbare Zäsur weist Hölderlins aus zwei Strophen bestehendes Gedicht "Hälfte des Lebens" auf. Darin wechselt die Stimmung von der ersten zur zweiten Strophe jäh. Erlebte Glücksmomente, festgehalten im Ausdruck lebendiger Naturschönheit, schlagen plötzlich in Eiseskälte um: "Weh mir, wo nehm’ ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen", heißt es in diesem Gedicht, das zu Hölderlins schönsten gehört.
An verschiedenen Stellen seines Buches verweist Safranski auf Hölderlins "Kälteschock", erwähnt er, dass Hölderlin sich von "Erstarrung durch Kälte" bedroht fühlte. "Ich friere und starre in den Winter, der mich umgiebt", heißt es in einem Brief des jungen Hölderlin. Anders als seine Freunde Schelling und Hegel war es Hölderlin nicht gegeben, auf die zunehmende gesellschaftliche Kälte mit philosophischen Erklärungsversuchen zu antworten.
Safranski zeigt Hölderlin als einen Dichter, der im Verweis auf die Antike an verlorengegangene Idealität erinnert. Enttäuscht von der Gegenwart wendet er sich aber nur scheinbar von ihr ab. Das "Vaterland" nimmt er durchaus in die Pflicht, wenn er davon spricht, "daß wir nicht geschaffen sind, um mit uns nach Willkür spielen zu lassen".

Mehr Emphase, weniger Abgeklärtheit

Safranski wirft im Vorwort seines Buches die Frage auf, was das für "ein Feuer" war, "das in Leben und Poesie Hölderlins" brannte. Er beantwortet sie indirekt, wenn er in Hölderlin einen Dichter sieht, der stets angehalten war, das in ihm brennende Feuer (in der Dichtung und in der Liebe) zu bändigen und unter Kontrolle zu halten.
Nach verschiedenen Biografien, u.a. über Schiller, Goethe und E.T.A. Hoffmann, weiß Safranski, wie vorzugehen ist, wenn an einen Dichter erinnert werden soll, der in der Literatur Geniales hinterlassen hat.
Seine Hölderlin-Biografie ist professionell geschrieben, aber ein neues Hölderlin-Bild entwirft er nicht. Safranski hält sich zurück und stellt keine ähnlich steile These auf wie Pierre Bertaux in seinem Hölderlin-Buch, der behauptete, dass Hölderlin nicht wahnsinnig gewesen sei.
Gewünscht hätte man sich von ihm ein wenig mehr Emphase und dafür etwas weniger Abgeklärtheit. Häufig verstellen philosophische Exkurse und zu akademisch geratene Werkinterpretationen den Zugang zu diesem Dichter, den es im Hölderlin-Jahr 2020 unbedingt wieder zu entdecken gilt. Ein verlässlicher Begleiter ist Safranskis Hölderlin-Biografie dabei allemal.

Rüdiger Safranski: "Hölderlin. Komm! Ins Offene, Freund!" Biographie
Hanser Verlag, München 2019
335 Seiten, 28 Euro

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