"Rückschlag in die Vergangenheit"

Paul Lendvai im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 21.12.2010
Der ungarisch-stämmige Publizist Paul Lendvai hat das neue ungarische Mediengesetz als Rückschlag für die Demokratie gewertet. Mit dem Gesetz würden die Errungenschaften der freien Presse und die Medienfreiheit erheblich eingeschränkt.
Jan-Christoph Kitzler: Ungarn gilt immer als gutes Beispiel für Staaten des früheren Ostblocks, die es geschafft haben, Anschluss zu finden an den Westen. Vielleicht liegt das auch daran, dass in Ungarn nicht nur 1956 beim Volksaufstand ein freiheitlicher Geist wehte, ab Januar wird das Land im europäischen Fokus stehen, wenn es für ein halbes Jahr lang die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.

Doch seit April dieses Jahres gibt es Zweifel, ob sich Ungarn auch im demokratischen Sinne gut entwickelt, die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán regiert seitdem mit Zweidrittelmehrheit und der Aufschwung der rechtsgerichteten Parteien führt zu einem Umbau des Landes in Wirtschaft, Kultur und natürlich auch in der Politik, den viele mit Sorge betrachten. Darüber spreche ich jetzt mit Paul Lendvai, er stammt aus Ungarn, ist Mitherausgeber und Chefredakteur der in Wien erscheinenden "Europäischen Rundschau", und er gilt als einer der besten Kenner Ost- und Südosteuropas. Guten Morgen!

Paul Lendvai: Guten Morgen!

Kitzler: Wie groß ist sie denn, Ihre Sorge um die Demokratie in Ungarn?

Lendvai: Die Chance ist wesentlich größer geworden nach der Verabschiedung des neuen Mediengesetzes, das in Wirklichkeit einen Rückschlag von heute noch nicht abschätzbarer Tragweite bedeutet, einen Rückschlag in die Vergangenheit. Denn dadurch werden die Errungenschaften bei der freien Presse, Medienfreiheit, Freiheit des Denkens erheblich eingeschränkt.

Kitzler: Sie haben das Mediengesetz angesprochen, das wurde wie gesagt jetzt verabschiedet. Die Presse, das Fernsehen, der Rundfunk, das Internet werden schärfer kontrolliert von einem regierungsnahen Medienrat, der kann gleich drakonische Strafen auch verhängen. Werden da ganz systematisch wichtige demokratische Kontrollfunktionen außer Kraft gesetzt?

Lendvai: Ich weiß es nicht, ob das so geplant ist. Tatsache ist, dass eine Dame, die als Fidesz-treue Funktionärin im Presse- und Medienwesen gilt seit Jahren, sie wurde für neun Jahre als Vorsitzende dieser Behörde mit ganz großen Kompetenzen bestellt. Die Behörde beziehungsweise das Kuratorium oder der Lenkungsrat besteht fast gänzlich aus Fidesz-Funktionären und Fidesz-Leuten. Und sie können praktisch nach den Buchstaben und Geist dieses einzigartigen Gesetzes über das Schicksal fast aller Medien verfügen. Die Frage ist nur, wie weit werden sie die Kompetenzen ausnützen, die heute zu ihrer Verfügung stehen?

Kitzler: Viktor Orbán, der Ministerpräsident, und seine Partei Fidesz, die planen ja offenbar für eine längere Zukunft. Neun Jahre ist der Medienrat berufen, haben Sie auch gesagt. Wie lange, glauben Sie denn, kann er sich an der Macht halten und Ungarn weiter in diesem Sinne umgestalten?

Lendvai: Also auch der oberste Staatsanwalt, auch ein Fidesz-Funktionär, wurde für neun Jahre bestellt. Der Schlüssel zu dieser Politik, den Schlüssel finden wir in einer Rede, die der Ministerpräsident vor einem Jahr oder anderthalb Jahren gehalten hat: In dieser Rede sagt er, es ist Zeit für Ungarns Zukunft, dass man mit dem Parteienhader aufhört und ein zentrales politisches Kräftefeld soll die Zukunft bestimmen, sodass man 15, 20 Jahre lang eine ruhige Entwicklung hat. Ich glaube, man kann damit rechnen, dass nach allen diesen Änderungen bei den Kompetenzen, bei der Einschränkung des Pouvoirs des Verfassungsgerichtes und so weiter, wenn diese Regierung und vor allem der starke Mann Ungarns, Viktor Orbán, keine gravierenden Fehler macht, dass man mindestens acht Jahre an der Macht bleiben kann.

Kitzler: Was für eine Zukunft hat denn angesichts dieser Perspektive die Demokratie in Ungarn? Anders gefragt, werden sich angesichts der Lage jetzt immer mehr Menschen abwenden vom parlamentarischen System und seinen Institutionen? Und bleibt so was wie Bürgersinn auf der Strecke?

Lendvai: Es ist so, es gibt Meinungsumfragen, die zeigen, dass ein überraschend hoher Prozentsatz der Menschen, vor allem auch der jungen Menschen, eine Sehnsucht nach dem starken Mann, nach einer starken Führung bekundet haben. Dass diese Regierung zweifellos die Unterstützung der Mehrheit oder zumindest jener Menschen, die zu den Wahlen, zu den Urnen gegangen sind, besitzt, zeigten auch die Kommunalwahlen im Oktober.

Die neuesten Umfragen zeigen einen Rückgang bei der Unterstützung, aber das Problem liegt darin, dass es keine starke Opposition gibt. Die Sozialisten haben durch ihre Politik, durch ihr Versagen in acht Jahren Regierung das Vertrauenskapital verspielt, sie sind in Fraktionskämpfen verstrickt, in Korruptionsabwehren, also sie gelten nicht als eine funktionsfähige Opposition. Ein gutes Zeichen ist, wenn Sie so wollen, dass die radikal Rechte, die Rechtsradikalen, die sogenannte Jobbik-Partei, stagniert. Sie wurden zum Teil isoliert, zum Teil inhaliert, und es gibt eine kleine grüne, bürgerrechtlich angehauchte Partei, die aus jungen Menschen besteht, aber keine Gefahr für diese sehr starke, mit Zweidrittelmehrheit operierenden Regierungspartei bedeuten.

Wenn die Bevölkerung – nachmittags Demonstrationen gegen dieses Mediengesetz –, wenn die Bevölkerung und vor allem die Intellektuellen ihre Stimme erheben, dann ist das möglich, dass die gemäßigten Kräfte in der Umgebung Orbáns und in seiner Partei stärker zur Geltung kommen. Heute bestehen keine großen Chancen dafür, dass die Politik dieser Regierung in der absehbaren Zeit grundsätzlich geändert wird.

Kitzler: Ungarns Demokratie am Scheideweg, so sieht es Paul Lendvai, Publizist, Mitherausgeber und Chefredakteur der in Wien erscheinenden "Europäischen Rundschau". Soeben ist sein neues Ungarn-Buch "Mein verspieltes Land" erschienen. Vielen Dank und einen schönen Tag!

Lendvai: Auf Wiederschauen!
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