Rudolf Steiner und die Anhänger der Waldorfschule

Auf dem "rassistischen Auge fast unbelehrbar"

Undatiertes Porträt des österreichischen Anthroposophen Rudolf Steiner
Undatiertes Porträt des österreichischen Anthroposophen Rudolf Steiner © imago / United Archives
Helmut Zander im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 25.02.2011
Vor 150 Jahren wurde Rudolf Steiner geboren, Begründer der Anthroposophie und der Waldorf-Pädagogik. Bis heute tun sich einige seiner Anhänger schwer damit, seine teils rassistische Lehre zu kritisisieren, sagt der Steiner-Biograf Helmut Zander.
Liane von Billerbeck: Für die einen ein visionärer Pädagoge und Weltanschauungsphilosoph, für die anderen vor rassistischem Gedankengut nicht gefeiter Esoteriker: Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik, bis heute ebenso gefeiert wie umstritten. Am kommenden 27. Februar jährt sich sein Geburtstag zum 150. Mal, und wir haben uns deshalb zum Gespräch verabredet mit dem Historiker Helmut Zander, der sich sehr gründlich mit Steiner befasst hat.

Er ist Privatdozent für Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und Fellow an der Ruhr-Universität Bochum. Er hat eine umfangreiche Studie über Anthroposophie in Deutschland geschrieben und sich da mit dem Zeitraum 1884 bis 1945 befasst und im Januar sein Buch "Rudolf Steiner. Die Biographie" - überaus lesenswert, aber überzeugte Steiner-Anhänger haben darüber längst den Stab gebrochen. Herr Zander, ich grüße Sie!

Helmut Zander: Guten Tag, Frau von Billerbeck.

Billerbeck: Rudolf Steiner wurde ja in einem entfernten Winkel des Habsburgerreiches 1861 geboren, im heutigen Kroatien, hat dann in Wien Naturwissenschaften studiert und sollte nach dem Wunsch seines Vaters Ingenieur werden. Wie kommt denn ein junger Mann mit dieser Perspektive dazu, zum Gründer einer ganz neuen Bewegung, der Anthroposophie, zu werden?

Zander: Na, das hat viel mit der Universität zu tun, auf die sein Vater ihn geschickt hat. Er studiert nämlich nicht nur Technik und Naturwissenschaften, sondern auch Goethe. Und da lernt er ein idealistisches Denken kennen. Also die Vorstellungen, dass die Ideen, das Geistige eigentlich das Zentrum der Welt seien, das verliert er kurz vor 1900, aber daran kann er anknüpfen, als er in die theosophische Gesellschaft einsteigt.

von Billerbeck: Welche weltanschaulichen Bewegungen waren denn so um 1900 en vogue?

Zander: Es gibt zum einen den Versuch, Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft zusammenzubinden. Das ist vielleicht überhaupt das Zentrale des Zeitgeistes, das Rudolf Steiner prägt. Das machen sehr viele Gruppen, unter anderem auch Esoteriker. Die haben auch die Vision, dass man eben durch übersinnliche Erkenntnis Materie und Geist wieder verbinden könne. Und es gibt sehr konkrete Gruppen: Die Theosophen etwa, die indisches Gedankengut anwenden, es gibt Spiritisten, die versuchen, in Séancen durch Erscheinungen von Toten sozusagen empirisch zu beweisen, dass es das Jenseits gäbe. Und in diesem Umfeld tut sich auch Steiner um, und er hat sich aus vielen dieser Quellen bedient am Ende.

von Billerbeck: Ein Zeitgenosse, der beschreibt Steiner als bartlosen Jüngling, schlank, mit langem Haar von dunkler Färbung, eine scharfe Brille gab seinem Blick etwas Stechendes. Er war altmodisch gekleidet, trug einen langen, schwarzen Tuchrock und auch einen altmodischen Zylinder. Was für ein Mensch war Steiner?

Zander: Steiner kommt aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, sein Vater war Bahnangestellter, und er hat eine Vision für das Kind: Der Rudolf, der sollte aus diesen armen Verhältnissen herauskommen und bürgerlich werden. Das schlägt sich in dieser Kleidung nieder, die ist immer ein wenig old-fashioned bei Steiner, aber das hat er von seinem Vater mitgenommen. Und er ist in einem nationalen, nationalistischen Umfeld groß geworden, seine Kindheit spielt sich auf der Grenze zwischen dem deutschsprachigen und dem ungarischsprachigen Österreich ab – das hat ihn sehr nationalistisch geprägt.

von Billerbeck: Sie haben 2000 Seiten, ein ganzes Kompendium über die Anthroposophie geschrieben und eben auch eine Biografie Rudolf Steiners. Wenn Sie kurz zusammenfassen sollten, was das Credo der Anthroposophie ist, wie lautet das?

Zander: Es gibt eine geistige Welt, das ist die Grundlage. Man kann sie durch Meditation erkennen, das ist der zweite Satz. Und der dritte lautet: Man kann sie anwenden, etwa in Schulen, in der Landwirtschaft, in der Medizin.

von Billerbeck: Es gibt eine geistige Welt, wir erkennen sie und wir machen sie nutzbar, dennoch, wie kommt einer wie Steiner dazu, eine Schule, eine ganze Pädagogik zu gründen – hat er denn eine Ahnung davon?

Zander: Ja, erst mal ist er nicht dazu gekommen, sondern man ist zu ihm gekommen. Und so ist es auch mit der Pädagogik gewesen, das war Emil Molt, ein Stuttgarter Industrieller, der wollte eine ordentliche Schule für seine Arbeiterkinder haben. Und dann steht Steiner in der Tat vor fast einem freien Feld, denn er hat fast keine pädagogische Erfahrung, er hat sich nie theoretisch mit Pädagogik beschäftigt, und sozusagen aus dem Stehgreif entwickelt er eine Pädagogik. Die umfasst zum einen ganz klassische Elemente der Realschule, der Staatsschule. Dann kommt dazu ein reformpädagogisches Erbe, etwa die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen oder zensurenfreie Zeugnisse. Und dann ist das Zentrale und was bis heute die Waldorfpädagogik umfasst und prägt sein esoterisches Denken. Wieder dieser Ansatz: Es gibt eine geistige Welt, und aus dieser geistigen Schau müssen wir die Kinder erziehen. Und das ist eine Mischung, aus der Steiner im Laufe der Jahre Stück für Stück, je nachdem, wie es verlangt wird, eine Pädagogik zimmert, die am Ende nie ganz fertig geworden ist, weil er gestorben ist, bevor die Waldorfschule, die erste, ihre zwölf Schuljahre voll hatte.

von Billerbeck: Es gab ja um 1900 schon eine erste Welle reformpädagogischer Schulgründungen, die zweite folgte nach 1918/19 in Deutschland. Könnte man sagen, die Steiner-Schulen, die Waldorfpädagogik sind quasi ein Kind der Novemberrevolution?

Zander: Ja, ganz deutlich. Es war eine Welt, wo man dachte, alles ist möglich und alles muss verändert werden, und das hieß, man muss aus der Kasernenschule, wie man feindlicherweise sagte, ausbrechen und etwas Neues machen. Und das tut Steiner. Er ist ganz aktiv in der Revolutionszeit nach 1918, er entwirft ein neues Gesellschaftsmodell, eine neue Medizin und eben auch eine neue Schule.

von Billerbeck: Der Historiker Helmut Zander ist mein Gesprächspartner, Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie unser Thema. Sie haben es schon erwähnt und auch von Kritikern wird das immer wieder gesagt: Steiners Anfälligkeit für Rassentheorien. Ich hab da ein Zitat gefunden, das fand ich sehr deutlich und das erinnerte mich an was. Da steht nämlich: "Der Neger hat ein starkes Triebleben, und weil er eigentlich das sonnige Licht und Wärme da an der Körperoberfläche in seiner Haut hat, geht sein ganzer Stoffwechsel so vor sich, wie wenn in seinem Innern von der Sonne selbst gekocht würde. Daher kommt das Triebleben. Im Neger wird da fortwährend richtig gekocht, und dasjenige, was dieses Feuer schürt, das ist das Hinterhirn." Ich musste sofort an Sarrazin denken und den Satz, "Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen.", bei Steiner ist es der "Neger", in Anführungsstrichen. Das ist doch eindeutig rassistisch.

Zander: Erst mal ja, das ist rassistisch. Der zweite Satz muss lauten: Das ist vor Auschwitz. Man hatte sozusagen die Dramatik der Folgen noch nicht vor Augen, und man muss sagen, man kann Steiner irgendwo verstehen. Er ist Evolutionsdenker, er ist der Meinung, alles, was es gibt, entwickelt sich evolutionär – der Mensch, der Kosmos, die Kultur. Und weil er ein konsequenter Denker ist, hat er vor den Rassen, die er als solche erfunden hat, die gibt es natürlich so nicht, aber hat er vor den Rassen keinen Halt gemacht.

Und dann finden sich all diese grauslichen Äußerungen, von denen Sie jetzt eine zitiert haben. Und Steiner war sich, glaube ich, überhaupt nicht bewusst, welche dramatischen Abwertungen er vornimmt. Er war der Meinung, alles entwickelt sich evolutionär, fortschrittlich, und das hat er schlicht auf seine Rassentheorien übertragen. Und heute können wir in der Tat nichts anderes sagen als, das ist rassistisch, und da muss man sich sehr kritisch zu verhalten.

von Billerbeck: Steiner wird ja dennoch von seinen Anhängern sehr gefeiert, ist aber unter anderem deshalb höchst umstritten, denn die Waldorfpädagogik, die ja hier so große Urstände feiert, ist eine ideologisch geprägte Schule. Was bedeutet es denn, wenn man sich heute auf Rudolf Steiner beruft und auf seine esoterisch geprägte Ideologie?

Zander: Ich glaube, Eltern müssen wissen, erstens, dass Waldorfschulen sehr unterschiedlich sein können, und zweitens, dass sie nie wissen, auf welches Maß an Weltanschauung, an Ideologie sie treffen. Ich glaube, was nicht geht, ist, eine weichgespülte Waldorfpädagogik zu formulieren, die nur noch aus Reformpädagogik besteht. Wenn man Rudolf Steiner und sein Werk und seine Schule ernst nimmt, dann, glaube ich, muss man sehen, dass ihm dieses esoterische Anliegen unglaublich wichtig war.

Und von daher hat es zumindest früher in Waldorfschulen, auch in den Schulheften Dinge gegeben, die wir heute als rassistisch bezeichnen würden. Nun sind die Waldorfschulen völlig erschreckt inzwischen und versuchen dem irgendwie aus dem Weg zu gehen, aber Eltern wissen letztendlich nicht, welche Teile des esoterischen Programms dort umgesetzt werden. Und ich glaube, man muss sich sehr genau mit Eltern, die gute Erfahrungen, schlechte Erfahrungen gemacht haben, unterhalten, um zu wissen, wie weltanschaulich geprägt nun konkret die Schule in der eigenen Umgebung ist.

von Billerbeck: Gibt es denn genug kritische Distanz und Aufarbeitung der Person Steiners in der Waldorfbewegung?

Zander: Damit tut man sich immer schwer, weil Rudolf Steiner die zentrale Identifikationsfigur ist, und die Angst, wenn man wirklich kritisch darangeht, ist, es könnte alles wegbrechen. Man weiß nicht, was dann noch stehen bleibt. Aber fairerweise muss ich sagen, dass es Waldorfpädagogen gibt, die dieses Problem sehen und die auch versuchen, kritisch an Steiner zu arbeiten, es gibt allerdings auch Mitglieder der Waldorfschulbewegung, die sind auf diesem rassistischen Auge fast unbelehrbar.

von Billerbeck: Nun muss man ja nur Ihren Namen, Helmut Zander, im Internet eingeben, dann kommen haufenweise Beschimpfungen, unwissenschaftlich ist noch die sanfteste Kritik, obwohl Sie sich ja sehr umfangreich und genau mit Steiners Leben und Werk befasst haben. Ein Argument der Befürworter ist immer, die Anthroposophiebewegung sei doch sehr aktiv und vor allem sehr lebendig. Woher kommt dieser große Widerstand, sich der Figur Steiners historisch und sachlich zu nähern?

Zander: Ein Grund ist, wenn man ihn historisiert, in die Zeit einstellt, ihn in das Netz von Beziehungen und Gedanken einstellt, dann haben Anthroposophen Angst, die übersinnliche Erkenntnis könnte beschädigt werden. Für einen Historiker ist das ganz klar, dass man so historisch-kritisch vorgeht, für Anthroposophen ist das oft ein Kratzen an der Wahrheit. Da kann man nichts machen, diese Perspektiven sind, glaube ich, nicht miteinander in Deckung zu bringen.

Das andere Problem ist, dass Steiner glaubte, eine Wissenschaft begründet zu haben, und Anthroposophen sich heute als eine wissenschaftliche Weltanschauung immer noch verstehen. Das Problem ist, so wie wir an der Universität Wissenschaft betreiben, das ist ein ganz anderes Unternehmen. Uns geht es nicht um letzte Wahrheiten, um übersinnliche Erkenntnis, um objektive Inhalte, sondern wir diskutieren Thesen, wir haben plausible Argumente, unser Wissen an der Universität ist Deutung auf Zeit, und das ist unendlich weit weg von dem, was Steiner gewollt hat und was viele Anthroposophen heute noch wollen. Und diese Welten prallen aufeinander, und ich glaube, viele Anthroposophen verstehen überhaupt nicht, wie anders Wissenschaft an der Universität denkt heute.

von Billerbeck: Am 27. Februar vor 150 Jahren wurde Rudolf Steiner geboren. Über den Gründer der Anthroposophie sprachen wir mit dem Historiker Helmut Zander, dessen Rudolf-Steiner-Biografie kürzlich bei Piper erschienen ist. Ich danke Ihnen!

Zander: Danke, Frau von Billerbeck!
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