Ruanda und die Folgen - 20 Jahre nach dem Genozid

Wem gehört das Land?

Eltern mit ihren Kindern in einer Gesundheitsstation im Dorf Rukogo im Norden von Burundi
Eltern mit ihren Kindern in einer Gesundheitsstation im Dorf Rukogo im Norden von Burundi © picture-alliance / dpa / Tom Schulze
Von Leonie March · 02.04.2014
In Burundi kam es im Laufe der Jahre immer wieder zum gegenseitigen Genozid zwischen Tutsi und Hutu - mit Hunderttausenden Opfern. Heute schürt die Landfrage den Konflikt, der in Burundi bislang kaum aufgearbeitet wurde.
Im Schatten der Bananenstauden gräbt Pascasie Miburo den Boden ihrer kleinen Parzelle um. Das Feld ist so winzig, dass die hagere Frau die Grenzen mit einer einzigen Handbewegung umreißen kann. Ein paar Quadratmeter, auf denen sie Bohnen, Maniok und Süßkartoffeln anbaut.
"Ich wollte noch mehr pflanzen, aber dann wurde ich krank. Es war keiner da, der das Wasser für die Pflanzen vom Fluss holen konnte. Daher fällt die Ernte wohl noch geringer aus als sonst. Schon jetzt fällt es mir schwer, auch nur eine warme Mahlzeit am Tag zusammenzubekommen. Meine fünf Kinder gehen häufig hungrig zu Bett. Wenn es sich ergibt, arbeite ich auf den Feldern wohlhabenderer Nachbarn. So verdiene ich wenigstens etwas Geld, um auf dem Markt einzukaufen."
Die 30-Jährige wirkt kraft- und hoffnungslos, als sie kurz vor Mittag ihre Hacke schultert. Wie fast 90% der Bevölkerung Burundis lebt sie von der kleinbäuerlichen Landwirtschaft; in einem Dorf im Nordosten des zentralafrikanischen Zwergstaats.
Kleine Häuser aus rötlichbraunen Lehmziegeln verteilen sich über die hügelige Landschaft; auf vielen Dächern trocknen Bohnen in der Sonne. Mannshohe Hecken grenzen die sauber gefegten Grundstücke voneinander ab. Schmale Fußpfade schlängeln sich durch die üppige Vegetation; geprägt von Bananenstauden, Kaffeesträuchern und Gemüsefeldern, wie das von Pascasie Miburo. Von oben sieht die Landschaft aus wie ein Flickenteppich, unterteilt in viele kleine Anbauflächen. Selbst steile und steinige Abhänge werden bewirtschaftet. Denn Land ist knapp.
"Früher war das Leben noch etwas leichter, doch nun werden die Parzellen von Jahr zu Jahr kleiner. Mein Mann hat nur dieses winzige Feld geerbt. Es ist alles, was wir haben."
Mit jeder Generation schrumpft die Existenzgrundlage
Land wird traditionell unter den männlichen Nachkommen aufgeteilt. Die Familien sind kinderreich. Mit jeder Generation schrumpft die Existenzgrundlage. Mittlerweile leben durchschnittlich 400 Menschen auf einem Quadratkilometer. Burundi zählt damit zu den am dichtesten besiedelten Staaten Afrikas und zu einem der ärmsten. Über die Hälfte der Kleinkinder sind chronisch mangelernährt. Viele Familien sind auf Lebensmittelhilfen angewiesen.
Während die Bevölkerung jedes Jahr um nahezu drei Prozent wächst, habe die Produktivität der Landwirtschaft seit 1993 deutlich abgenommen, erklärt Prosper Ruberintwari von der Welternährungsorganisation in Burundi. Das Jahr markiert den Beginn des über ein Jahrzehnt dauernden Bürgerkrieges.
"Der Konflikt hat sich stark auf die Ernährungssituation ausgewirkt. Viele Menschen konnten ihre Felder jahrelang nicht bewirtschaften, weil sie immer wieder vor der Gewalt flüchten mussten. Sie hatten weder eine Möglichkeit Dünger oder Saatgut zu kaufen, noch haben sie eine landwirtschaftliche Ausbildung. Als Konsequenz sind die Erträge von Jahr zu Jahr gesunken."
Die Geschichte der Vertreibungen in Burundi ist lang und blutig. Der seit Jahrzehnten schwelende ethnisch und politisch motivierte Konflikt zwischen der Tutsi-Minderheit und der Hutu-Mehrheit eskalierte mehrmals. 1972 ermordete die Tutsi-Regierung nach einem Putschversuch nahezu die gesamte Hutu-Elite. Damals flüchteten Hunderttausende in die Nachbarländer.
Nach einem Machtwechsel wurde 1993 der erste Hutu-Staatschef des Landes ermordet, sein Nachfolger kam ein Jahr später gemeinsam mit dem Präsidenten Ruandas bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Der bis heute nicht vollständig geklärte Absturz gilt als Auslöser des Völkermords in Ruanda und führte auch in Burundi zu einer neuen Welle der Gewalt; einer Serie politischer Morde und schrecklicher Massaker an Mitgliedern beider Volksgruppen. Schätzungen zufolge wurden 300.000 Menschen getötet, etwa 1,3 Millionen wurden intern vertrieben oder flüchteten ins Ausland.
Fehlende Wahrheits- und Versöhnungskommission
Die Kleinbäuerin Pascasie Miburo erinnert sich kaum an den Bürgerkrieg. Vielleicht möchte sie auch nicht darüber reden. Schweigend sitzt sie auf einer Strohmatte vor ihrem Häuschen und pult Bohnen aus ein paar wenigen Schoten, die sie gerade geerntet hat.
Im Gegensatz zum Nachbarland Ruanda, wurde die gewaltvolle Vergangenheit in Burundi kaum aufgearbeitet. Zwar sieht die Nachkriegsverfassung Quoten für den Anteil von Tutsi und Hutu im Parlament, in Polizei und Armee vor, aber eine ursprünglich geplante Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild wurde bislang nicht eingesetzt. Ein Großteil der Bevölkerung gilt als traumatisiert.
Pascasie Miburo zuckt wortlos mit den Schultern, lässt ihre Hände kraftlos auf den Schoss sinken, den Blick leer geradeaus gerichtet. Dann hat sie aber doch noch etwas zu sagen. Es geht ums Ackerland.
"Diejenigen, die damals vor dem Bürgerkrieg geflüchtet sind, sind mittlerweile zurückgekehrt. Auch sie haben viele Kinder. Sie siedeln sich wieder auf dem Land ihrer Väter an und so werden unsere Felder noch kleiner."
In einem kleinen grasgedeckten Lehmhaus in der Nachbarschaft lebt einer dieser Rückkehrer. Wie viele Menschen aus Burundi hatte Emmanuel Ntakondereye während des Bürgerkrieges Schutz im Nachbarland Tansania gesucht. Damals war er Anfang zwanzig. Seine Frau hat er im Flüchtlingslager kennengelernt, sein ältester Sohn wurde dort geboren.
"Wir sind 2002 zurück nach Burundi gekommen. Zwei Jahre nach dem Friedensabkommen schien es uns wieder sicher genug zu sein. Wir hatten gehofft, dass uns die Regierung oder eine der Hilfsorganisationen dabei unterstützt, ein neues Leben aufzubauen. Aber wir waren vollkommen auf uns allein gestellt."
Rückkehr aus dem Exil
Die Rückkehr in seine Heimat hatte sich der Familienvater anders vorgestellt. Er gehörte damals zu den ersten, die aus dem Exil heimkamen. Die meisten seiner Landsleute blieben aus Angst vor Verfolgung viel länger; Zehntausende kehrten erst im vergangenen Jahr zurück, nachdem das letzte Flüchtlingscamp für Burundier in Tansania geschlossen worden war. Für sie sei es nun noch schwerer, sich wieder einzuleben und einen Platz in den Dorfgemeinschaften zu finden, meint Emmanuel Ntakondereye. Immer wieder gebe es Streit um den Landbesitz.
"Ich habe mein Feld damals ohne größere Probleme zurückbekommen. Heutzutage ist das nicht mehr so leicht. Aber leider ist es nur ein kleines Stück Land, gerade einmal 30 Quadratmeter. Das reicht nicht, um meine Familie zu ernähren. Manchmal kann ich als Tagelöhner etwas Geld dazu verdienen, dann können wir Bohnen auf dem Markt kaufen. Aber die Preise sind in den letzten Jahren immer weiter gestiegen. Uns geht es wie den meisten auf diesem Hügel. Wir sind alle hungrig."
Die Armut und der Mangel an Ackerland sind ein schwelender Konfliktherd in der kleinbäuerlichen Gesellschaft, in der das Überleben davon abhängt, was man mit seinen eigenen Händen anbauen kann. Andere Einkommensmöglichkeiten gibt es kaum. Die Situation sei verfahren, meint Prosper Ruberintwari von der Welternährungsorganisation.
"Der ohnehin große Druck durch das Bevölkerungswachstum wird durch die heimkehrenden Flüchtlinge noch verstärkt. Sie fordern ihren Landbesitz zurück, müssen jedoch immer wieder feststellen, dass sich längst andere Leute dort angesiedelt haben. Das sorgt natürlich für Konflikte. Zum einen gibt es einfach nicht genügend Ackerflächen für alle, zum anderen ist das Land nicht immer auf eine gute oder legale Weise erworben worden."
Ungeklärte Eigentumsverhältnisse
Häufig ist es schwierig, die Besitzverhältnisse eindeutig zu klären: Nach Jahrzehnten im Exil haben viele Rückkehrer Schwierigkeiten, die exakten Koordinaten ihrer Parzellen anzugeben. Andere haben keine Papiere, die ihre Ansprüche belegen. Teilweise haben Verwandte das Land weiterverkauft. In anderen Fällen wird es von Nachbarn bewirtschaftet, die nicht mehr mit einer Rückkehr der ursprünglichen Besitzer gerechnet hatten und sich nun selbst als rechtmäßige Eigentümer sehen. Regelmäßig berichtet das burundische Fernsehen von dramatischen Szenen:
Ein Mann wirft sich zu Boden, weil er nach Jahrzehnten sein Haus an einen heimgekehrten Flüchtling abgeben muss. Polizisten halten eine wütende Menge in Schach. Die Stimmung wirkt explosiv. Konflikte wie dieser werden nicht immer nur mit Worten ausgetragen. Schätzungen der UN gehen davon aus, dass jede burundische Familie mindestens eine Schusswaffe besitzt. Sie wollten damit ihr Eigentum schützen, gab die Mehrheit der Befragten in einer Umfrage vor ein paar Jahren an.
Um Eskalationen zu vermeiden, hatte die Regierung schon vor Jahren eine Kommission eingesetzt. Sie soll die Restitutionsfragen klären und zwischen den Konfliktparteien vermitteln. Nach eigenen Angaben hat sie bereits über 23.000 Fälle erfolgreich beigelegt. Kritiker werfen der Kommission jedoch vor, Regierungsanhänger, Rückkehrer und generell Hutu zu bevorzugen. Die ungelöste Landfrage trägt damit zu den politischen Spannungen bei, die ein Jahr vor den Neuwahlen in Burundi spürbar zunehmen.
In den grünen Hügeln Burundis ist der Konflikt um das rare Ackerland allgegenwärtig. Es herrscht eine erbitterte Rivalität um jedes noch so kleine bewirtschaftbare Stückchen. Mit verheerenden sozialen Folgen: Witwen werden häufig nach dem Tod ihres Mannes von Verwandten vertrieben. Denn Frauen können in Burundi traditionell kein Land erben. Sie bleiben obdach- und mittellos zurück. Ebenso wie tausende Waisenkinder, deren Eltern im Krieg oder an Krankheiten gestorben sind, erzählt Johannes Wedenig. Der Österreicher ist der Repräsentant des Kinderhilfswerks UNICEF in Burundi.
"Wir sehen mehr und mehr, dass der massive Druck auf die Ressourcen der Familien - weil es eben immer mehr gibt, immer weniger Ressourcen und diese noch mal aufgeteilt werden müssen zwischen den nächsten Generationen - vor allem dazu führt, dass Halbwaisen oder Waisen nicht mehr von der weiteren Familie aufgefangen werden, sondern dass im Gegensatz jetzt sehr oft die weitere Familie sie ausstößt, um an das Erbe dieser Kinder noch heranzukommen und es sich einzuverleiben. Und das ist ein wesentlicher Push-Faktor für Kinder, die auf der Straße sind, für Kinder, die eben ausgestoßen werden aus dieser familiären oder kommunitären Gemeinschaft."
Ein tief gespaltenes Land
Der durch Krieg und Vertreibung ohnehin fragile Zusammenhalt in den Dorfgemeinschaften wird dadurch weiter belastet. Keine gute Voraussetzung für ein tief gespaltenes Land, in dem der gesellschaftliche Aussöhnungsprozess noch ganz am Anfang steht. Um den mühsam errungenen Frieden nicht zu gefährden, muss vor allem der sich weiter zuspitzende Landkonflikt entschärft werden.
"Jetzt müssen die Menschen die Friedensdividende spüren, das ist ganz wichtig für Burundi. Wenn sie sie jetzt nicht spüren - und man weiß das aus vielen Fällen, fünf, sechs bis zehn Jahre später muss einfach die Friedensdividende ankommen, sonst wird es wieder Konflikt geben. Menschen müssen den Unterschied sehen. Sie sind jetzt müde vom Krieg, keiner will zurück zum Krieg derzeit. Aber natürlich, wenn sich die Situation nicht spürbar bessert, dann ist das natürlich ein gewaltiger Konfliktherd."
Die Kleinbäuerin Pascasie Miburo und der ehemalige Flüchtling Emmanuel Ntakondereye spüren von dieser Friedensdividende noch nichts. So wie die Mehrheit der Landbevölkerung in Burundi. Für sie war das Überleben schon immer eine Gratwanderung. Sowohl im Krieg als auch heute, rund zehn Jahre später. Ihr gemeinsamer Feind ist der Hunger. Dementsprechend bescheiden wirken ihre Hoffnungen für die Zukunft.
Pascasie Miburo wünscht sich, dass ihre Kinder einmal genug zu essen haben, und dass ihre Familie gesund bleibt. Aber all das liege in Gottes Hand, sagt sie schicksalsergeben.
Emmanuel Ntakondereye hofft, einmal genug Geld sparen zu können, um sich eine Ziege leisten zu können. Als Grundstock für eine Zucht, die ihn und seine Familie unabhängiger von der reinen Ackerwirtschaft machen würde. Denn Land, das weiß auch er, wird in Burundi auch in Zukunft Mangelware bleiben.
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