Rotes-Kreuz-Experte zum Jahrestag des Erdbebens

Nepals Regierung behindert Wiederaufbau

Max Santner im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 25.04.2016
Hilfsorganisationen könnten eine Menge für die Menschen in Nepal tun. Doch sie fühlen sich von der Regierung blockiert: "Wir fahren mit angezogener Handbremse", kritisiert Max Santner vom Roten Kreuz.
Ein Jahr nach dem schweren Erdbeben in Nepal kommen Hilfsorganisationen dort kaum voran. Max Santner, Delegationsleiter der internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften in Nepal, kritisierte im Deutschlandradio Kultur:
"Wir haben an sich die Kapazitäten - aber wir fahren mit angezogener Handbremse. Das ist unser dringender Appell an die Regierung hier, diese Handbremse zu lösen und uns zu gestatten, zu arbeiten."
Konzeptlosigkeit und Bürokratie-Dschungel
Der gesamte politische Fokus in dem chronisch unterentwickelten Land sei auf den Übergang von einer Monarchie zu einer Republik gerichtet. Es mangele daher vonseiten der Regierung an der nötigen Energie für den Wiederaufbau.
So fehle es noch immer an klaren Daten, wie viele Menschen von der Katastrophe betroffen seien, sowie an einem Rahmenprogramm, an dem sich die Hilfsorganisationen "entlang arbeiten" könnten. Santner beklagte fehlende Ansprechpartner auf lokaler Ebene und einen "Bürokratie-Dschungel".
Nach Angaben des Rot-Kreuz-Experten sind zahlreiche Menschen nach wie vor in temporären Unterkünften untergebracht. Man könne davon ausgehen, dass der Wiederaufbau noch mehrere Jahre dauern werde.
Bei dem Erdbeben am 25. April vergangenen Jahres waren mehr als 9.000 Menschen ums Leben gekommen. Mehr als 600.000 Häuser wurden zerstört, Millionen Menschen wurden obdachlos.

Liane von Billerbeck: Wenn die Erde mit der Stärke 7,8 der nach oben offenen Richter-Skala bebt, sechs Minuten lang, und dann noch in einem der ärmsten Länder der Welt mitten im Himalaya, dann braucht man nicht viel Fantasie, um sich die Folgen auszumalen. Sie sind dramatisch, und sie waren es vor einem Jahr, am 25. April 2015 gegen elf, als ein schweres Erdbeben Nepal erschütterte. Felswände brachen, Häuser stürzten ein, Straßen wurden unpassierbar, mehr als 9.000 Menschen starben, über 20.000 wurden verletzt, und mehr als 600.000 Häuser wurden zerstört. Millionen Menschen sind seitdem obdachlos. Der Wiederaufbau in Nepal wird noch lange dauern, und die nächste Katastrophe ist programmiert. Die Nepalesen bauen auf eigene Faust, und der zweite Monsun nach dem Beben naht. Wie die Situation in dem geschundenen Land heute ist, darüber habe ich vor unserer Sendung mit Max Santner gesprochen. Er ist Delegationsleiter der gesamten Hilfe der internationalen Föderation der Rot-Kreuz- und Rot-Halbmond-Gesellschaften in Nepal. Ich grüße Sie!
Max Santner: Guten Tag, grüß Gott!
Von Billerbeck: Wie ist die Situation derzeit? In welcher Lage sind die Nepalesen ein Jahr nach dem Beben?
Santner: Ich glaube, wenn man das Szenario jetzt betrachtet, dann muss man auch ein bisschen die Geschichte Nepals anschauen. Nepal ist eines der ärmsten Länder, ist chronisch unterentwickelt, hat einen Bürgerkrieg hinter sich, 1996 bis 2006, und ist im Übergang von einer Monarchie zu einer Republik. Das hat zur Folge, dass der gesamte politische Fokus eigentlich auf diesem Übergang konzentriert ist. Und das heißt also, es wurde hier im letzten Jahr, als es zum Wiederaufbau kommt oder kommen sollte, eigentlich nicht aus unserer Sicht die nötige Energie darauf verwendet, diesen Wiederaufgang wirklich instand zu bringen. Viele Menschen sind noch in temporären Unterkünften untergebracht, und man kann wirklich davon ausgehen, dass dieser Wiederaufbau mehrere Jahre von heute an noch dauern wird.

"Dringender Appell an die Regierung, die Handbremse zu lösen"

Von Billerbeck: Woran fehlt es denn momentan am meisten, am dringlichsten?
Santner: Das, womit wir hier konfrontiert sind, von den Hilfsorganisationen, vom Roten Kreuz oder auch von anderen Organisationen, ist, dass einfach noch keine klaren Daten auf der einen Seite da sind, wie viele Menschen sind wirklich betroffen. Und zweitens, dass ein Rahmenprogramm, an dem man entlangarbeiten kann, noch nicht von der Regierung herausgegeben worden ist. Wir haben an sich die Kapazitäten durch die Kollegen vom Nepalesischen Roten Kreuz, mit unseren Freiwilligen, aber wir fahren mit angezogener Handbremse. Und diese Handbremse wurde irgendwie von der Regierung angezogen, und es ist eigentlich unser Wunsch oder unser dringender Appell an die Regierung hier, diese Handbremse zu lösen und uns eigentlich zu gestatten, zu arbeiten.
Von Billerbeck: Was können Sie denn konkret trotz der angezogenen Handbremse tun?
Santner: Wir haben zum Beispiel mehrere Hundert Tischler und Maler ausgebildet. Wir haben vielen Menschen schon geholfen, ein bisschen ihre Wirtschaftskreisläufe in Gang zu bringen, indem wir Saatgut verteilt haben. Oder ein anderes Beispiel: Wir haben in der Vorwoche einen Gesundheitsposten an das Gesundheitsministerium übergeben. Aber wie gesagt, ich glaube, dieser Vergleich mit der Handbremse trifft das Ganze sehr gut. Wir können fahren, aber wir können nicht mit vollem Tempo fahren.

"Auf lokaler Ebene müssen Wahlen stattfinden"

von Billerbeck: Das heißt, es gab ja auch Spenden nach dem Erdbeben, auch dieses Geld kann gar nicht zum Einsatz kommen, weil die Umstände nicht so sind, dass Sie richtig arbeiten können?
Santner: Ja, das ist richtig. Wir haben natürlich diese Spenden bei uns sozusagen in der Tasche, aber, und da muss man schon ein bisschen auch relativieren. Es ist durchaus nicht so unüblich, dass erst der Wiederaufbau nach einem Jahr wirklich losgeht. Das hat damit zu tun, dass einfach die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden müssen. Es geht dann sehr oft um Eigentumsfragen, um Landfragen. Und das alles muss geregelt werden. Und das noch dazu in einem Land, wie ich schon eingangs erwähnt habe, das ein sehr armes Land ist und ein sehr unterentwickeltes Land einfach ist.
Von Billerbeck: Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit jetzt? Was muss jetzt am dringendsten geschehen?
Santner: Das Erste ist, auf lokaler Ebene müssen Wahlen stattfinden. Es gibt seit 17 Jahren auf lokaler Ebene keine Wahlen. Es gibt dort keinen Bürgermeister, mit dem man vor Ort das Projekt implementieren kann. Das Zweite ist weniger Zentralisierung. Dezentralisierung, mehr an die Distrikte gehen, dass dort außerhalb, draußen an der Peripherie gearbeitet worden ist. Und das Dritte, was ich hier nennen möchte, ist weniger Bürokratie. Wir stecken hier also wirklich in einem Bürokratiedschungel oft, der sehr mühsam ist und der einfach auch dazu führt, dass das wirklich länger dauert.
Von Billerbeck: Am Telefon im fernen Nepal war Max Santner, der Delegationsleiter und Chef der Gesamtoperation der internationalen Hilfe der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften. Und heute Abend in "Fazit" sprechen wir über den Wiederaufbau des vom Erdbeben zerstörten nepalesischen Kulturerbes mit dem Bauhistoriker Niels Gutschow.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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