Ronya Othmann über ihr Debüt "Die Sommer"

Die bedrohte Dorfwelt der jesidischen Familie

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Porträt von Ronya Othmann, Autorin und Journalistin. Klagenfurt, 29.06.2019.
Ronya Othmann wuchs im bayerischen Freising auf. Ihr Vater war 1980 als staatenloser Kurde aus Nordostsyrien über die Türkei nach Deutschland geflohen. © akg / Susanne Schleyer
Von Jule Hoffmann · 26.08.2020
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Ronya Othmann ist als Schriftstellerin, Lyrikerin und Journalistin mit meinungsstarken Texten präsent - und als Stimme der jesidisch-kurdischen Minderheit. Ihr Debütroman "Die Sommer" entstand nach dem Genozid an den Jesiden im Nordirak.
Die Eisenbahnstraße liegt im Leipziger Stadtteil Neustadt. Syrische Restaurants und türkische Supermärkte säumen die Bürgersteige, Menschen sitzen vor Cafés. Hier sei sie oft, sagt Ronya Othmann: im Park, beim Späti oder wie gerade beim Eiskaffee im Café Awa.
Auf dem Tisch vor ihr liegt ein Exemplar ihres druckfrischen Debütromans. Das Cover von "Die Sommer" zeigt ein Foto, das sie mit ihrem Handy vom Fernseher abfotografiert hat.
"Wir haben so ein Video aus dem Dorf angeschaut", erzählt Ronya Othmann. "Da war die Landschaft zu sehen, es war ein Hochzeitsvideo. Und ich habe random immer so Fotos gemacht. Also das ist theoretisch, wenn man nach Norden schaut. Der Grenzstreifen ist da, den sieht man aber nicht, weil es eh so verschwommen ist und die Gebirge dahinter."
Ihr Vater floh 1980 als staatenloser Kurde aus Nordostsyrien über die Türkei nach Deutschland. Alljährliche Sommerreisen, die große Entfernung und die Sehnsucht nach dem Dorf der Großeltern prägten Ronya Othmanns Kindheit und Jugend im bayerischen Freising.

Eine Bestandsaufnahme machen

Schon 2014 hatte sie begonnen, an "Die Sommer" zu schreiben, als Kämpfer der Terrormiliz IS in die jesidischen Dörfer im Norden des Irak einfielen - "nachdem meine Großmutter und auch mein Onkel und seine Frau und die Kinder geflohen sind, kurz nach dem Genozid." Schon ein bisschen davor, als die Lage schon so schwierig war, habe sie bereits angefangen, so etwas wie Listen zu machen, was es im Dorf alles gibt.
Die durch den IS unmittelbar vom Verschwinden bedrohte Dorfwelt ihrer Familie war für Ronya Othmann Anlass, eine Bestandsaufnahme zu machen. Sie wollte schriftlich festhalten, was sie wusste, woran sie sich erinnerte und was sie in Erfahrung bringen konnte.
"Und dann die Erzählungen", sagt Othmann. "Weil ich das immer auch so erlebt habe, als ich aufgewachsen bin, dass dann irgendwas erzählt wurde von unseren Leuten, die dann irgendwie … Ich weiß nicht, wann, wo in welchem Gebirge irgendetwas passiert ist, und was dann da und da passiert ist - und dass immer gesagt wurde: Ja, aber die Person, die das genauer erzählen könnte, die lebt halt nicht mehr."

Widerstand durch Erinnern und Erzählen

Die Flüchtigkeit der mündlich überlieferten Geschichten machten das Schreiben für sie zur Notwendigkeit – und zu einer Form des Widerstands: "Widerstand im Erzählen oder im Erinnern", erklärt Othmann. "Ich finde schon, dass wenn diese Sachen, die passieren, so homogenisiert werden sollen und ausgelöscht." Wenn man sich aber erinnere, sei das ein Stück weit Widerstand. "Hier in Deutschland kann man das Buch schreiben, ohne dass man Konsequenzen hat", sagt sie. "Aber ich hätte die Sachen nicht schreiben können, wenn meine Familie noch dort gewesen wäre." Das habe sie jetzt nur machen können, weil sie geflohen seien.
Buchcover von "Die Sommer" von Ronya Othmann vor orangefarbenem Aquarellhintergrund. 
Als IS-Kämpfer in das Dorf einfielen, begann Ronya Ortmann mit ihrem Roman.© Hanser Verlag / Deutschlandradio
Ihrem Roman vorangestellt hat sie eine Widmung auf Kurdisch. Auf Deutsch stehe da: "Für meinen Vater, für meine Familie, für meine Schwestern. Und Widerstand ist Leben." Und sie fügt lachend hinzu: "Ein bisschen pathetisch, aber ja…"

"Literarisches Schreiben ist politisch"

Ronya Othmann wirkt offen und lacht viel. Sie hat einen Stil, den man als hip oder urban bezeichnen könnte. Sie trägt lila Lippenstift und pinken Lidschatten. Auch außerhalb des Literaturbetriebs ist sie aktiv, twittert täglich und schreibt gemeinsam mit der Künstlerin Cemile Sahin die taz-Kolumne "Orient Express", in der sie sich kritisch mit Themen wie Islamismus und Nahostpolitik auseinandersetzt.
In erster Linie sei sie aber nicht Journalistin, sondern Schriftstellerin. Ob sie sich als politische Schriftstellerin sehe? Das habe sie nie bewusst entschieden, sagt sie, und erzählt von der verbliebenen kurdischen und armenischen Bevölkerung, die noch in der Region Shingal lebt: "Die haben seit 20 Tagen kein Wasser mehr, weil die Türkei das Wasser abgedreht hat, zum Beispiel. Und irgendwie ist es schwierig, wenn man permanent mit diesen Sachen lebt und das auch mitbekommt durch Freunde oder Bekannte, durch Verwandte und so weiter." Literarisches Schreiben sei für sie schon politisch, aber nicht aktivistisch. "Das ist vielleicht ein Unterschied."

Täter und Opfer des IS in Deutschland

Die Grenze zwischen Literaturbetrieb und Twitter-Blase existiert für Ronya Othmann genauso wenig wie die zwei Welten, zwischen denen sie sich vermeintlich bewegt. Eine Million Kurden leben hier in Deutschland, sagt sie.
"Das heißt, auch wenn man den Genozid an den Jesidinnen und Jesiden nimmt, die Täter sind hier, also die IS-Täter, und kommen von hier teilweise, und die Opfer sind hier teilweise. Und diese ganzen, vielen Nahost-Themen, die spielen sich auch in Deutschland ab. Oder sie sind auch hier."
Ronya Othmann verscheucht eine Wespe von ihrem Eiskaffee und nimmt ihr Handy in die Hand. Auf Twitter schreibt sie: "In #Hasakeh #nordsyrien hat die Türkei vor über zwanzig Tagen das Wasser abgedreht." Und darunter: "Das ist übrigens die Gegend, in der mein Roman "Die Sommer" spielt."

Ronya Othmann: "Die Sommer"
Hanser Verlag, München 2020
288 Seiten, 22 Euro

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