Romeo Castellucci bei den Ruhrfestspielen

Iphigenie im Wunderland

Der italienische Regisseur Romeo Castellucci bei der Ruhrtriennale 2014
Schafft groteske, verstörende Bilderwelten: der italienische Regisseur Romeo Castellucci © dpa / Caroline Seidel
Von Stefan Keim · 19.05.2016
Theaterabende unter Polizeischutz, heftige Kritik aus Rom: Romeo Castellucci hat mit seinen Inszenierungen schon oft für Aufsehen gesorgt. Nun zeigt er seine bekannte "Orestea"-Inszenierung neu. Das Stück ist eine Zumutung – und ein Erlebnis.
Theaterinszenierungen sind vergänglich. Das unterscheidet sie grundlegend von Romanen, Filmen und Gemälden. Doch manche halten sich überraschend lange. Das Deutsche Theater in Berlin behält einige Inszenierungen des verstorbenen Jürgen Gosch im Repertoire, Operninszenierungen haben inzwischen so viele Koproduktionspartner, dass sie viele Jahre lang durch die Häuser gereicht werden. Und nun hat Romeo Castellucci, Regiedarling internationaler Festivals, seine 21 Jahre alte "Orestie" neu inszeniert und auf Europatournee geschickt. Deutschlandpremiere war bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen.

Eine antike, surreale Horrorwelt

Romeo Castellucci zeigt eine surreale Horrorwelt. Von der Tonspur dröhnen fauchende, zermürbende Klänge. Der Anführer des Chores – also der Repräsentant der Bürger – ist ein langohriges Kaninchen, das Volk eine kleine Gruppe aus Porzellan-Nagern. Die Bühne ist ständig in Bewegung, Elemente verschieben sich, immer nur ein bisschen. So entsteht eine latent bedrohliche Atmosphäre. Kassandra, die Prophetin und Warnerin, ist eine sehr dicke, nackte Frau, die in einer Art Telefonzelle eingequetscht sitzt. Die Zuschauer haben kaum eine andere Wahl, als sie wie eine Jahrmarktsattraktion anzugaffen, Castellucci zwingt das Publikum zum Voyeurismus.
Der erste Teil dieser "Orestie" ist laut, aufdringlich, enervierend und verstörend. Am Ende wird das Kaninchen geschlagen, mit Blut übergossen und an den Ohren aufgehängt. Die Porzellanfiguren explodieren. Dann erzählt das Kaninchen die Geschichte von "Alice im Wunderland", nur dass der Name von Lewis Carrolls Heldin durch Iphigenie ersetzt ist, Agamemnons und Klytämnestras Tochter, die der Herrscher den Göttern opferte, um günstige Winde für seinen Feldzug zu bekommen. Wer in dieser Inszenierungsidee nach einem Sinn sucht, hat ebenso verloren wie Alice oder Iphigenie im Land der verrückten Hutmacher und Grinsekatzen.

Wer sich in Mythologie nicht auskennt, versteht überhaupt nichts

Es geht Romeo Castellucci nicht um eine Neudeutung der "Orestie". Er will keine Parallelen zur Gegenwart herausarbeiten, wie es viele Regisseure an Stadttheatern tun. Bei ihm ist die antike Tragödie fremd, wild und sperrig, ein negatives Wunderland. Zwischen Darstellern und Zuschauern befindet sich die ganze Zeit ein halb durchsichtiger Vorhang. Die grotesken Bilder bleiben auf Abstand. Castellucci erzählt zwar grob, wie Agamemnon umgebracht wird, seine Kinder den Muttermord planen und durchführen und Orest schließlich von gespenstischen Eumeniden gehetzt wird. Aber wer sich im Mythos nicht auskennt, versteht überhaupt nichts.
Nach der Pause verschwindet der Lärm. Zwei nackte Männer – Orest und Pylades – bewegen sich wie leise, langsame Clowns. Staub rieselt herab, der Kadaver einer Ziege baumelt von der Decke, die beiden Männer beatmen ihn, als wollten sie das Tier wiederbeleben. Die ruhigen Bilder irritieren mehr als die lauten. In dieser 21 Jahre alten Aufführung finden sich fast alle Elemente, die für Romeo Castellluccis Theatersprache typisch sind. Das Interesse für Rituale, an Nacktheit und extremer Körperlichkeit, für Tiere und auch für Maschinen. Der erste Scheinwerferspot des Abends zeigt einen Filmprojektor.

Mehr als ein einfaches Remake

Ist der Rückgriff auf diese Arbeit eine Art Selbstbefragung Castelluccis? Er selbst schreibt im Programmheft, er habe diese Inszenierung gefunden, sie lag auf dem Boden rum. Er habe sie angefasst wie ein unbekanntes Objekt, das irgendjemand vor langer Zeit gemacht und weggeworfen habe. Die "Orestie" von heute sei kein einfaches Remake, sondern eine neue Auseinandersetzung mit der Theorie des Tragischen. Um wohlklingende, theoretisch fundierte Formulierungen ist Romeo Castellucci nie verlegen. Das trägt zu seiner Beliebtheit auf internationalen Theaterfestivals bei. Aber er schafft auch sinnliche, konfrontative Bilder jenseits der Dechiffrierbarkeit. Die mit seiner schon 1981 gegründeten Gruppe "Societas Raffaello Sanzio" einstudierte Aufführung ist eine Zumutung und ein Erlebnis, nervend und faszinierend, anstrengend und aufwühlend. Dieses Theater will nicht mit dem Publikum kuscheln. Es sucht nicht nach Gemeinschaft. Man kann es hassen, und dennoch lässt es einen nicht los. Aufgewärmt wirkt nichts an dieser kantigen, seltsamen, herausfordernden "Orestie".
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