Romantisierter Schrecken der Weltmeere?

27.04.2010
Es ist noch kein Jahr her, da waren Piraten in aller Munde - allerdings die moderne Variante. Der kanadische Philosoph und Literaturwissenschaftler Daniel Heller-Roazen hat sich mit dem Phänomen Piraten beschäftigt - in der Literatur sowie in der Realität.
Bis heute denkt man bei Piraten an Abenteuer, hohe See und wilde Männer, an Käpt’n Störtebeker und "Fluch der Karibik". Auch den Umschlag dieses Buches ziert eine Serie von unrasierten Piratenköpfen mit Augenklappe, Ohrring und Messer zwischen den Zähnen. Seltsam - denn Seeräuber-Romantik zeichnet den Band nicht aus.

"Der Feind aller. Der Pirat und das Recht" ist weder ein Abenteuersachbuch noch eine journalistische Fallrecherche zur jüngsten Piraterie etwa vor den Küsten Somalias, sondern eine philosophische Studie. Daniel Heller-Roazen, 1974 geborener Professor in Princeton, schreibt über den Piraten als "Paradigma": als Figur, an der sich wesentliche rechtlich-politische Verhältnisse ablesen lassen. Er benutzt historische, rechtliche, politikwissenschaftliche, philologische, literaturwissenschaftliche Quellen – und fügt sie zum Porträt einer Figur, die sich, so randständig sie auch scheint, als Schlüsselfigur des politischen Denkens erweist.

Alles beginnt bei Cicero. Dessen Hauptwerk "De officiis", 44 v. Chr. verfasst, umreißt die grundsätzlichen Tugenden und Pflichten aller Menschen. Gegen Ende seines Traktats aber schließt der Römer eine Figur aus, der niemand Pflichten schuldet, nicht einmal jene, die dem Gegner in rechtmäßigen militärischen Auseinandersetzungen gelten: eben den Piraten. "Denn der Pirat", so Cicero, "gehört nach der Definition nicht in die Zahl der Kriegsgegner, sondern ist der gemeinsame Feind aller."

Dieser Ausschluss aus der menschlichen Gemeinschaft ist es, den Heller-Roazen skandalisiert. Denn zum einen zählt Ciceros "De officiis" zum Tafelsilber der gern "humanistisch" genannten griechisch-römischen Antike. Und zum anderen macht noch unsere Gegenwart immer neue "Verbrecher gegen die Menschheit" aus. Wie soll man dem "gemeinsamen Feind aller" begegnen? Auf Fairness hat er keinen Anspruch, sagt Cicero, Täuschung, Tücke, Rücksichtslosigkeit sind erlaubt. Heller-Roazen schließt: "Man wird selbst zum Piraten."

Geduldig analysiert Heller-Roazen die philosophisch-juristischen Debatten der Antike, des Mittelalters, der Aufklärung und der Moderne. In seinem Gang durch die Jahrhunderte zeichnen sich vier Merkmalen ab, die den Piraten als Paradigma auszeichnen: Piraterie findet stets in einem Gebiet statt, das einen rechtlichen Ausnahmestatus genießt; zunächst auf dem Meer, seit dem 20. Jahrhundert auch in der Luft und schließlich in bestimmten Regionen auf dem Land.

Zweitens wird der Pirat als universeller Gegner betrachtet; aus Ciceros "Feind aller" wird in der Moderne der "Feind des Menschengeschlechts". Drittens verwischt der Pirat die Grenzen zwischen Strafrecht und Politik, er ist halb Verbrecher, halb Kriegsgegner. Und so sind, viertens, die Maßnahmen gegen ihn weder reiner Krieg noch reine Kriminalitätsbekämpfung, sondern eine Mischung.

Der Pirat in diesem Sinne, auch wenn die Welt der Störtebekers längst versunken ist, prägt noch die Gegenwart. "Ungesetzliche Kombattanten" werden von einem Rechtsstaat in Guantánamo Bay kaserniert, ohne dass sie sich auf Rechte berufen könnten; in einem unerklärten Krieg werden Verbrecher in den Bergen Afghanistans gejagt. Der Kampf für die Werte der Menschheit hat seine unheimlichen Schattenseiten. Dass beides offenbar zusammengehört, darauf wirft Daniel Heller-Roazen - in der Tradition von Walter Benjamin und Giorgio Agamben – ein unerbittliches Licht.

Besprochen von René Aguigah

Daniel Heller-Roazen: Der Feind aller. Der Pirat und das Recht
Aus dem Amerikanischen von Horst Brühmann
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2010
348 Seiten, 22,95 Euro.