Roman

Zwischenstation Jerusalem

Von Manuela Reichart · 23.01.2014
Der 14-jährige Waise Felix landet kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs bei einer Verwandten in Jerusalem. Inmitten von Gestrandeten wird er erwachsen. Der Roman von Olivia Manning zeichnet ein einfühlsames Porträt der Stadt.
Jerusalem kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs: Ein einsamer Heranwachsender auf der Suche nach Zugehörigkeit und Verständnis. Der 14-jährige Felix ist Waise – und Engländer. Er hat mit seiner Mutter bis zu deren Tod unter bescheidenen Umständen in Kairo gelebt und wird nun nach Jerusalem zu einer entfernten Verwandten verfrachtet. Die ist eine alte Jungfer, geizig und hinterhältig, eine bösartige Frau.
Sie betreibt eine Pension und gehört einer seltsamen christlichen Religionsgemeinschaft an. Nichts an ihr ist offen und freundlich, und wie in allen anderen zahlenden Gästen ihres Hauses sieht sie in dem englischen Jungen vor allem eine Einnahmequelle. Dass er um seine Mutter trauert, sich einsam und verlassen fühlt, interessiert sie ebenso wenig wie die Lage des alten Mieters, den sie auf die Straße setzt, weil er kein Geld mehr hat. Sie hält sich trotzdem für einen besonders guten Menschen und erst allmählich beginnt der Junge die Bigotterie zu begreifen, die das Streben um den eigenen Vorteil christlich verbrämt.
Es ist jedoch nicht allein der Kosmos dieses immer zu kalten Hauses, in dem es nie genug zu essen gibt, in dem der Heranwachsende sich zu recht finden muss. Olivia Manning erzählt eine ganz besondere "Coming of Age-Geschichte". Der Held lernt das Leben und die Liebe kennen in dieser Stadt voller Flüchtlinge und Ressentiments, Lügen und Hoffnungen. Die meisten Menschen sind hier Gestrandete, die auf ein besseres Leben hoffen, Gezeichnete, die die Kriegsjahre geschunden überstanden haben.
Autorin lebte selbst als Flüchtling in Jerusalem
Die englische Autorin (1908-1980) hat selber 1945 als Flüchtling in Jerusalem gelebt, sie kennt die Stadt und beschreibt einfühlsam die Biographien der Menschen, die den Weg des Jungen kreuzen: Das ist vor allem die schöne schwangere Kriegerwitwe, die mehr aus Zufall und Gelegenheit als aus Liebe geheiratet hatte und jetzt allein da steht, da ist eine einsame Wiener Jüdin, da sind Mutter und Sohn, die einmal zur besseren ungarischen Gesellschaft gehörten und sich nun als Dienstpersonal verdingen müssen, und da sind die jungen Männer in den Cafés und Bars, die sich über Religion und Nationalität hinwegsetzen, weil Kunst und Intellekt sie verbinden.
Inmitten all dieser Gestrandeten wird der Junge erwachsen, lernt sich und die anderen und vor allem den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung kennen. Olivia Mannings Roman aus dem Jahr 1951 gilt in England als moderner Klassiker. Bei uns kann man die Autorin und das Buch jetzt entdecken – und mit großem Vergnügen lesen. "Abschied von der Unschuld" zeichnet ein kluges und genaues und amüsantes Porträt der Stadt und ihrer Menschen.
Am Ende ist die hinterlistige Pensionswirtin die große Gewinnerin, die einmal mehr ihren Vorteil realisiert und den netten alten Mann heiratet, der zu Geld gekommen ist. Die Moral siegt also nicht in diesen verworrenen Zeiten, aber immerhin wird der Junge nach England auf ein Internat geschickt und dort eine ordentliche Schulausbildung bekommen. Mehr kann er im Augenblick nicht verlangen vom Leben. Immerhin darf er das ihm liebste Lebewesen mitnehmen auf die große Fahrt – eine Siamkatze.

Olivia Manning: Abschied von der Unschuld
Aus dem Englischen von Susann Urban
Edition Büchergilde, Frankfurt am Main 2013
267 Seiten, 22,95 Euro