Roman

Von Tieren und Menschen

Ein Rotfuchs (Vulpes vulpes), kurz Fuchs genannt, am 07.04.2014 in einem Gehege im Wildparks in Frankfurt (Oder) (Brandenburg).
Auch der Rotfuchs (Vulpes Vulpes) tritt als Erzähler auf. © dpa / Patrick Pleul
Von Thomas Wörtche · 08.08.2014
Erst dreht sich alles um die Jagd nach einem Frauenmörder, erzählt aus der Sicht verschiedenster Tiere. Doch dann verlässt der Roman diese fabelhafte Ebene und wechselt ins Politische. Ein faszinierendes und verstörendes Buch.
Wie originell, denkt man zunächst, wenn man mit der Lektüre von "Anima" beginnt. Ein Roman von 445 Seiten, für den sich der libanesisch-kanadisch-französische Autor Wajdi Mouawad – bekannt bisher als Dramatiker – eine außergewöhnliche Erzählperspektive gewählt hat. Beziehungsweise viele Perspektiven, denn "Anima" wird, mit Ausnahme des langen Schlusskapitels, nur von Tieren erzählt. Von einem scheußlichen Frauenmord in Montréal berichtet alles, was da kreucht und fleucht, von "Aedes stegomyia aegypti" (Gelbfiebermücke) bis zu "Vulpes Vulpes" (Rotfuchs), und diese Tiere begleiten den Ehemann des Opfers dann auch auf der Suche nach dem Mörder.
Die Perspektive ist die zahlloser Kameras: Mouawad brennt geschickt ein ganzes Feuerwerk an einzelnen "Einstellungen" ab, indem er sich den biologischen Gegebenheiten seiner "Erzähler" bedient – die Fliege an der Wand, der Rabe, der über dem Geschehen kreuzt, der Marienkäfer, dessen Sinne Dinge wahrnehmen und sinnlich erfahrbar machen, die für Menschen unerfahrbar sind.
Seltsamer Realismus
Nach ein paar Kapiteln haben wir es kapiert: Die Welt ist zu komplex, um sie lediglich anthropozentrisch erzählen zu können. Aber wir fragen uns auch, ab wann ein solches Experiment albern wird – denn die Tiere erzählen ja schließlich, weil an die menschliche Sprache gebunden, anthropozentrisch par excellence. Natürlich ist eine Technik, wie Mouawad sie verwendet, legitim, sprechende und erzählende Tier sind allerspätestens seit Cervantes' Hund Berganza und der Fabeltradition des 17. und 18. Jahrhunderts Standardpersonal großer Narrative.
Bei Mouawad allerdings dienen sie eher dem Herstellen eines seltsamen Realismus – denn die Jagd nach dem Mörder führt unseren Helden quer über den nordamerikanischen Kontinent, von Indianerreservaten in Kanada bis zum Show Down in den Bergen von New Mexico. Der Täter ist bald bekannt, die Polizei möchte ihn nicht belangen, weil er ihr Spitzel ist, also bleibt dem Rächer nur die Möglichkeit, ihn selbst zu erlegen.
An der Stelle zieht Mouawad ein esoterisches Element ein, laut dem jeder Mensch ein Tier als Äquivalent hat, dessen Seele sich dann als eben dieses Tier manifestiert – oder so. An solchen Stellen wird der Roman wolkig, arkan.
Politische Ebene – die Tiere sind verschwunden
Aber der größte Bruch steht noch aus: War das Buch bisher als mehr oder weniger gelungener Eso-Krimi zu lesen, dreht es sich im letzten Drittel: Es geht nicht mehr um die Suche nach dem Mörder. Der menschliche Held sucht, hetzt seinen Adoptivvater, nur um herauszufinden, dass der ein großes Scheusal war und ein blutige Rolle bei dem Massaker in den Palästinenserlagern Sabra und Schatilla im Libanon 1982 war.
Der Roman wird zum Aufschrei, zur Anklage, das Massaker wird – wie der finale Kampf zwischen Vater und Sohn – in exzessiven Gewaltbildern geschildert, die als Vergleich höchsten Jerzy Kosińskis Zweite-Weltkriegs-Roman "Painted Bird" kennen. Wo aber genau ist der politische Punkt, für den Mouawad die Tier-Ebene erst aufbaut, dann aber, wenn das Thema gewechselt wird, sie fallen lässt und sich für die summierende und wertende Schlusserzählung doch wieder lieber Homo sapiens bedient, dem dadurch die Deutungshoheit zugewiesen wird?
"Anima" ist ein teilweise faszinierendes, teilweise misslungenes und letztlich ein verstörendes Buch geworden. Verstörung kann ein Mittel zur Erkenntnis sein. Hier ist sie das, fürchte ich, eher nicht.

Wajdi Mouawad: Anima
Aus dem Französischen von Sonja Finck
dtv, München 2014
445 Seiten, 16,90 Euro