Roman

Sünder auf Trebe

Von Carolin Fischer · 17.12.2013
Autor Mathias Énard führt uns in die krude Gegenwart des Arabischen Frühlings, des islamistischen Terrorismus und der Weltwirtschaftskrise. Optimismus und ein lebendiger Stil trösten über das schwere Schicksal des jungen Helden hinweg.
Eine Brücke über den Bosporus sollte Michelangelo in Mathias Énards vorletztem Buch "Erzähl ihnen von Schlachten, Königen und Elefanten“ bauen und scheiterte an der Aufgabe. In Énards aktuellem Roman geht es erneut um einen Brückenschlag zwischen Orient und Okzident, doch führt er uns diesmal in die krude Gegenwart des Arabischen Frühlings, des islamistischen Terrorismus und der weltweiten, speziell der spanischen Wirtschaftskrise.
Es ist vor allem die Geschichte Lakdhars, eines jungen Marokkaners, der in seiner politisch relativ stabilen Heimat als ältester Sohn eines Gemüsehändlers eigentlich eine weitgehend ruhige und gesicherte Existenz hätte führen können, wenn er sich nicht an seiner Cousine Meryem vergriffen hätte. Anstatt nach diesem Sündenfall reuig um Rückkehr in das "Paradies" der Familie zu betteln, geht er auf Trebe, gerät so in die Hände von Islamisten, die den begeisterten Krimileser zu seinem Glück zum Buchhändler machen, aber nach einem Attentat verschwunden bleiben, so dass er sich eine neue Existenz suchen muss. Über diverse Umwege gelangt Lakdhar schließlich nach Barcelona, wo er sich in der Carrer Robadors, der titelgebenden Straße der Diebe, einquartiert und die Handlung ihren überraschenden Abschluss findet.
Subjektive Gesellschaftskritik
Die Geschichte dieses in vieler Hinsicht schwierigen und frustrierenden Lebens wird in der ersten Person erzählt, so dass wir die Entwicklung ganz genau nachvollziehen können, besonders auch deshalb, weil es sich um eine retrospektive Innensicht handelt. Damit wird das Erlebte einerseits plastisch, da es sich ja um die persönlichen Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle des Ich-Erzählers handelt, andererseits kann er sie gleichzeitig aus einer zeitlichen Distanz heraus schildern und damit auch partiell bewerten, wobei die Erzählperspektive auch die Subjektivität der im Roman enthaltenen Gesellschaftskritik unterstreicht.
Diese Distanz erklärt sich zum Teil aus seinen Lektüren, und es ist seine Liebe zur Literatur, die Lakhdar viele Türen öffnet und ihn letztlich rettet. Als junger Marokkaner mit mäßiger Schulbildung beginnt er nur deshalb, sich für arabische Literatur zu interessieren, um einer spanischen Arabistik-Studentin imponieren zu können, und er verschlingt "dutzendweise alte französische Krimis, weil darin häufig Ärsche, Blondinen, schnelle Schlitten, Whisky und Knete vorkamen, alles Dinge, die uns so sehr fehlten, wie wir von ihnen träumten“. Wir, das sind Lakhdar und sein Freund Bassam, denn dieser Roman ist auch die Geschichte zweier Freunde, die entgegengesetzte Wege einschlagen.
Das Schicksal des Erzählers würde dem Leser trostlos erscheinen, wäre die Figur nicht voller Optimismus und jugendlicher Energie. Überdies wird es ohne Larmoyanz und in einem lebendigen Stil geschildert, der die mitunter krude Ausdrucksweise eines Bengels mit beinahe blumigen Beschreibungen verbindet. Eine Mischung die durch Lakhdars Lektüren von Krimis und arabischen Klassikern glaubwürdig wird und dem Roman einen ganz eigenen Reiz verleiht.

Mathias Énard: Straße der Diebe
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag, Berlin 2013
352 Seiten, 19,90 Euro

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