Roman

Punktgenau gemein

Wie leicht oder schwer wiegt die Erinnerung am Ende eines Lebens?
Wie leicht oder schwer wiegt die Erinnerung am Ende eines Lebens? © dpa picture alliance/ Jens Wolf
Von Pieke Biermann · 10.06.2014
In seinem Roman erzählt der Flame Dimitri Verhulst die Geschichte eines alternden Bibliothekars. Dieser beschließt, sich in das Vergessen zu flüchten: Keine leichte Kost für Leser, die Menschliches lieber politisch-korrekt anfassen.
Oh, zeitgeistige Grillen! In den 1970er-Jahren wurden Lina Wertmüllers ellenlang-komische Filmtitel gnadenlos aufs Einsilbigste eingedeutscht. Momentan heischt dagegen jeder zweite Roman die Aufmerksamkeit des Publikums mittels eines auf "skurril" getrimmten Endlostitels. Egal, wie das Original heißt und ob das deutsche Titelmonster zum Rest passt. Dieser "Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau" jedenfalls ist - in der Verhulstschen Lakonik mit doppeltem Boden - einfach "De Laatkomer". Einer, der (zu) spät kommt, hinterherhinkt, ein Nachzügler. Dieser Spätzünder verfällt mit 73 Jahren auf eine wahre Wahnsinnsidee, um endlich mal allem zuvorzukommen.
Désiré Cordier ist ein typischer Bewohner des Verhulstschen Kosmos', in dem alles und alle zwischen Komik und Tragödie pendeln, exkrementelle Drastik und kreischende Hinterfotzigkeit inbegriffen. Er ist eine weitere Variation auf die "klassische" Schelmenfigur, die fest in Erzähl-Zeit und -Raum wurzelt, nämlich im Westeuropa der demografisch gekippten Alterspyramide: Kein bildungsferner Unterschichtbengel wie 2006 in "Die Beschissenheit der Dinge", den es durch die grausige Welt drischt, sondern ein gut situierter Bildungsbürger, den es aus der Welt hinaus treibt, hinein in die Einsam- und Ausweglosigkeit von "Winterlicht".
Wunderbare Neologismen
So heißt ein Pflegeheim für Demenzkranke und sonstiges "altes Eisen", das aussortiert und entsprechend behandelt wird. Der Mann mit dem durchstrukturierten Leben hat systematisch daran gearbeitet, hier zu landen, und spielt den Dementen so gut, dass er "selbst Ärzte vom neurofibrillären Geklumpe in seinem Hirnkasten überzeugen" kann. Bis er eines Tages gesagt bekommt, er trage zu dick auf - von einem Co-Insassen, der selber die dicksten Szenen hinlegt. Ist er etwa nicht der einzige Schein-Demente hier drin? Ist dann vielleicht auch Rosa, die ihm hier zufällig über den Weg schlurft, die verpasste Liebeschance seines Lebens, gar nicht? Mimt "Kommandant Alzheimer", der das Personal mit "Heil!" und Hitlerarm begrüßt, das Nazischwein, das er ist, zwecks Haftverschonung?
Der Bibliothekar erzählt uns das selbst. Sein Hirn, "die größtenteils biologisch abbaubare Datenbank zwischen den Ohren", funktioniert ja - oder? So ein Roman ist keine leichte Kost für Leser, die Allzumenschliches lieber mit politisch-korrekten Glacéhandschuhen anfassen. Alle anderen lachen immer wieder Tränen über den eisigen Irrwitz solcher Pflegeheime und Désiré Cordiers biestige Pöbeleien: gegen Gattin Moniek und ihre "manische Handtaschitis", die gemeinsamen Kinder Hugo und Charlotte, die Boule-Kumpel, Ärzte, Schwestern.
Es wimmelt wieder von wunderbaren Neologismen - sisyphusesk, zum Beispiel, oder Morbus Kaufrauschus. Es wimmelt auch von misogynen, alten- und kinderfeindlichen und selbstmitleidigen Ausfällen, allesamt punktgenau gemein. Aber nie ohne die Warmherzigkeit, die den messerscharfen Blick erst möglich macht. Der traut sich was, dieser Verhulst. Und mit ihm sein Übersetzer Rainer Kersten.
Dimitri Verhulst: Der Bibliothekar, der lieber dement war als zu Hause bei seiner Frau
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Luchterhand Literaturverlag, München 2014
141 Seiten, 12,99 Euro
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