Roman

Physik und Fantasie

Von Helmut Böttiger  · 03.01.2014
Der neu aufgelegte Roman "42" beschreibt die Arbeit der Wissenschaftler der Forschungsstätte CERN fachlich fundiert und geht doch weit über Physik hinaus. Plötzlich bleibt die Zeit stehen und ein Thriller beginnt.
Die geheimnisumwitterte physikalische Forschungsstätte CERN in Genf steht im Mittelpunkt dieses zum ersten Mal 2005 im Aufbau Verlag erschienenen Romans. Thomas Lehrs neuer Verlag Hanser legt ihn jetzt noch einmal neu auf, denn Lehrs literarische Versuchsanordnung verbindet das Physikalische und das Poetische in einer ungewöhnlichen Art und Weise. Alles, was in diesem Roman über das CERN und die Teilchenphysik gesagt wird, ist fundiert und entspricht exakt den tatsächlichen Gegebenheiten. Doch dann entwickelt sich eine Handlung, die märchenhaft anmutet, naturwissenschaftlich nicht mehr erklärbar ist und dennoch eine verwirrende, in sich geschlossene Logik aufweist.
Science-Fiction-Liebhaber, die sich vom Titel angesprochen fühlen, stehen dabei vor einer besonderen Herausforderung. "42" lautet er, einfach diese Zahl, und wer Douglas Adams und sein Kultbuch "Per Anhalter durch die Galaxis" gelesen hat, weiß, dass die Zahl "42" hier, auratisch und geheimnisvoll, als Chiffre für die Erklärung der Welt, für den letzten Sinn steht, das Ergebnis einer aufwendigen mathematisch-physikalischen Berechnung. Lehrs Roman scheint durchaus Elemente von Science-Fiction zu haben, und es entsteht auch eine starke Spannung, doch nie wird dieser Roman zu Fantasy, nirgends tauchen fantastische Wesen auf. Es ist alles auf eine verstörende, irreale Weise realistisch.
Thriller ohne jede Esoterik
Um 12 Uhr 47 und 42 Sekunden bleibt die Zeit plötzlich stehen. Wie das genau geschieht, ist Anlass zu diversen Vermutungen: es hat offenkundig etwas mit einer öffentlichen Präsentation des CERN zu tun, zu der Pressevertreter eingeladen sind, und dabei geschieht etwas Unvorgesehenes. 70 Menschen, die sich zufällig im Bannkreis des CERN-Inneren aufhalten, leben weiter wie zuvor, können sich bewegen und halten sich innerhalb der gewohnten Zeitvorstellungen auf, sie altern und agieren wie üblich. Der Rest der Welt aber steht still.
Die Menschen sind mitten in ihrer um 12.47 Uhr erfolgten Bewegung stehen geblieben, sie sitzen im Café, sie stehen vor einem Schaufenster, sie laufen gerade durch die Fußgängerzone: Sie sind in genau diesem Moment fixiert, aber sie sind offenkundig nicht tot. Es ist einfach eine Zeitlücke, in die die 70 Personen auf dem CERN-Gelände gefallen sind. Würde die Zeit weiterlaufen, hätte niemand etwas von der übrigen Bevölkerung gemerkt – von dieser Zeitlücke, die im Erleben der nicht vom Sekundenstillstand erfassten 70 Personen fünf Jahre lang dauert.
Lehr entwickelt aus dieser Versuchsanordnung suggestive literarische Expertisen über das Phänomen der Zeit, über die Unwägbarkeiten der Wahrnehmung. Er tut dies, ohne jemals esoterisch und irrational zu werden. Nach einer gewissen Anlaufzeit entwickelt die Handlung dieses Romans Thriller-Elemente, die man so noch nie gekannt hat. "42", das ist die direkte Übersetzung der einsteinschen Relativitätstheorie in Literatur. Alle Gewissheiten schwinden. Aber alles ist auf eine merkwürdige Weise nachvollziehbar.

Thomas Lehr: 42
Carl Hanser Verlag, München 2013 (Neuauflage)
368 Seiten, 21,90 Euro

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