Roman

Grauer Osten, lauter Westen

Ein junger Mann aus West-Berlin begrüßt seine Mutter am Übergang Chausseestrasse. Am 2. November 1964 durften erstmals seit dem Bau der Mauer am 13. August 1961 Rentner aus der DDR zu Verwandten nach West-Berlin und in die Bundesrepublik reisen.
Berlin war im Jahr 1964 ein eher abenteuerliches Reiseziel. © dpa / picture alliance
Von Manuela Reichart · 15.07.2014
Im Frühjahr 1964 reist der zwölfjährige Hanns-Josef Ortheil mit seinem Vater ins geteilte Berlin: ein Abenteuer der besonderen Art, über das der Junge Buch führt. 50 Jahre später hat der Autor nun seinen Kinderroman veröffentlicht.
Vater und Sohn machen eine Reise nach Berlin, die Mutter bleibt zu Hause in Köln, sie will nicht zurück in die Stadt, in der ihre Ehe begann, in der sie die Kriegszeit erlebte, in der sie sich einsam fühlte und in der sie während eines Bombenangriffs eine Totgeburt überstehen musste.
Aber das weiß der Junge nicht, der vom schrecklichen Schicksal seiner Eltern (die vier Söhne vor seiner Geburt verloren hatten) bisher nichts erfahren hat. Das wird sich in dieser Woche ändern, denn der Vater wird ihn mitnehmen an die alten Orte, die erste Wohnung der Eltern in Lichterfelde, den Botanischen Garten, die Mitte Berlins, die jetzt im Osten liegt, in der nichts mehr an das pulsierende Leben von damals erinnert. Die beiden treffen alte Freunde der Eltern, und sie nehmen zwei Koffer entgegen, die die Mutter damals zurückgelassen hatte.
Das Haushaltsbuch der Mutter, das unter den alten Sachen liegt, rührt den Sohn zu Tränen, obwohl sie nur prosaische Notizen über ihren Alltag und Seelenzustand macht. Aber die Rede ist da auch von ihrer Schwangerschaft und später davon, dass die Babykleidung weggeräumt werden muss.
Hässliche Neubauten, leere Geisterbahnhöfe
Der Junge schreibt Postkarten an seine Mutter, und er führt ein Reisetagebuch, beobachtet aufmerksam und macht sich Gedanken über die unterschiedliche Mentalität der Berliner und der Kölner. Die Stadt macht ihm Angst. Die Berliner reden ihm zu viel, die angepriesenen neuen Bauten findet er hässlich, den Westen zu laut, den Osten grau und leer.
Man geht mit Ortheils jungem Helden ins legendäre Aschinger, fährt noch einmal durch die Geisterbahnhöfe Berlins und wundert sich über die unfreundlichen Grenzbeamten. Der Junge schaut und macht sich Gedanken, langweilt sich in der Vorstellung von "Draußen vor der Tür" und findet das originale Berliner Essen in einer Eckkneipe mit typisch grantigem Kellner scheußlich. Eine Reise in die Vergangenheit der Stadt.
Hans-Josef Ortheil sagt, er habe nicht viel an dem Text geändert, das Reisetagebuch sei damals ein Geschenk für seinen Vater gewesen, das er lange vergessen und dann im Familienarchiv wiedergefunden habe. Wenn das so ist, dann ist dieses Berlin-Buch beides: Ein Zeugnis der wachen Blicke und klugen Empfindungen eines hochbegabten 12-jährigen Jungen, der ein besonders inniges und berührendes Verhältnis zu seinen Eltern hat, aber man erschrickt auch ein wenig bei der Lektüre: So wenig Kindlichkeit und Unbeschwertheit geht von diesem Knaben aus. Aber das war wohl die Bürde des einzigen Sohnes, der überlebt hat.

Hanns-Josef Ortheil: Die Berlinreise. Roman eines Nachgeborenen
Luchterhand Verlag, München 2014
288 Seiten, 16,99 Euro