Roman

Geheimnis der Fremdheit

Kleine Welle am Strand
Narcisse Pelletier wurde bei einem Landgang an der Ostküste Australiens allein zurückgelassen. © Jan-Martin Altgeld
Von Claudia Kramatschek · 31.01.2014
Ein vermisster französischer Matrose wird 1843 in Australien zufällig wiedergefunden: nackt, tätowiert, inmitten eines Stammes von Jägern und Sammlern. Der Roman von Francois Garde basiert auf einer wahren Begebenheit.
1843 ist der australische Kontinent noch weitgehend unerforschtes Gebiet. Ausgerechnet dort wird der junge Matrose Narcisse Pelletier bei einem Landgang allein zurückgelassen. Ist es ein Versehen? Oder eine Strafe, da Narcisse sich auf der Suche nach Wasservorräten leichtsinnig vom Rest der Mannschaft entfernt und sich in der ihm gänzlich unvertrauten Landschaft verloren hatte? Doch das Schiff kehrt nicht wieder – erst 17 Jahre später wird ein anderes Schiff ihn wieder auflesen. Da aber ist Narcisse schon längst zu einem 'weißen Wilden' geworden': über und über mit Tätowierungen bedeckt. Kleider trägt er keine; seine Sprache hat er ebenso vergessen wie alles, was ihn je mit seiner Herkunft verband.
All das klingt nach einer weiteren fantastischen Geschichte aus dem Genre der Robinsonade: Ein weißer Mann landet auf einer verlassen Insel. Doch Narcisse Pelletier gab es tatsächlich, unter gleichem Namen. Dennoch hat Garde keinen historischen Roman geschrieben. Die Faktentreue kümmert ihn nicht wirklich – ihn hat vielmehr die Geschichte eines Mannes interessiert, der zweimal seine Identität hinter sich lassen muss: Als Weißer ist Narcisse den Wilden selbst ein Fremder, muss aber zum Wilden werden, um des Überlebens willen. Als man ihn 17 Jahre später nach Frankreich – in seine Heimat – zurückholen wird, ist er auch dort ein Wilder, da er nicht mehr weiß, was die weiße Rasse auszuzeichnen scheint.
Momentaufnahmen einer doppelten Entfremdung
Dieser doppelten Passage einer zweifachen Entfremdung spürt Garde dabei in einer entsprechend kunstvollen Form nach: Die ersten Stunden, Tage und Wochen, in denen Narcisse sich langsam aber allmählich auf sein neues Leben einlassen muss, folgen wir dem jungen Mann quasi auf Augenhöhe. In kurzen Momentaufnahmen blicken wir mit ihm in eine Welt, die für ihn gänzlich unentzifferbar ist und die er sich also wie ein Forscher Stück für Stück, beobachtend und nachahmend, erschließen muss. Garde weiß und verrät dabei nie mehr als sein Held. Dieser ist nichts als Blick – und in eben diesen reinen Blick nimmt Garde uns in einer genauen und doch zurückhaltenden Sprache auf wundersame Weise hinein. Alternierend sind zwischen diese Kapitel die Briefe eines Forschers gesetzt, der 1861, also eben jene 17 Jahre später, die Verantwortung dafür trägt, Narcisse in sein Vaterland, vor allem aber in seine Kultur zurückzuführen.
Dass dieses Experiment – das man zu jener Zeit natürlich vor allem im Namen der Wissenschaft und im Namen einer Nation durchführt, die von der eigenen Überlegenheit und der Hierarchie der Rassen überzeugt ist – nicht gut ausgehen kann, ahnt man schon früh. Garde führt also wie nebenbei noch einmal die sich just im 19. Jahrhundert formierenden Taxinomien des Okzidents vor, die nicht nur dem "Weißen Wilden" bei seiner Rückkehr in die vermeintliche Zivilisation zum Verhängnis werden. Das größte Abenteuer aber in diesem Roman, der trotz seines noch heute aktuellen Themas so gar nicht didaktisch daher kommt, ist und bleibt die Sprache selbst, die hier das Geheimnis der Fremdheit feiert.

Francois Garde: Was mit dem weißen Wilden geschah
Roman
Aus dem Französischen von Sylvia Spatz
C. H. Beck Verlag, München 2014
318 Seiten, 19,95 Euro

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