Roman

Auf den Spuren des Urgroßvaters

Autorin Anne Weber
Autorin Anne Weber auf der Frankfurter Buchmesse; Aufnahme vom Oktober 2012 © picture alliance / dpa / Foto: Arno Burgi
Von Michael Opitz · 28.02.2015
In ihrem Buch "Ahnen" spürt die Autorin Anne Weber der Geschichte ihres Urgroßvaters nach. Der Pfarrer war ein Freund von Walter Benjamin und Martin Buber - und zugleich ein Mensch, der vorschlug, die Insassen einer "Irren- und Idiotenanstalt" zu vergiften.
Als eine "Gestalt, deren Eigenart mich ergreift und deren tiefe Ernsthaftigkeit und Radikalität mich erschüttert“, beschreibt Anne Weber in ihrem 2011 erschienenen Essay "Die Frische des Sonnenaufgangs. Gedanken zu Florens Christian Rang" ihren Urgroßvater Florens Christian Rang (1864-1924). Rang war befreundet mit Walter Benjamin, Gershom Scholem, Franz Rosenzweig, Martin Buber und Hugo von Hofmannsthal. Um diese "Heiligen der Kulturgeschichte" drehte sich Webers 2004 erschienenes Buch "Besuch bei Zerberus". Auf diese "stattlichen Männer", "die wissend und klug in die Zukunft blickten", beruft sich gern die Familie des Vaters – zu ihr aber darf Anne Weber nicht dazu gehören.
In ihrem nun vorliegenden Zeitreisetagebuch "Ahnen" folgt sie den Spuren ihres Urgroßvater, wobei sie bei der Lektüre seines Tagebuchs auf eine Stelle stößt, die sie wie ein "Schlag trifft". Nach dem Besuch einer "Irren- und Idiotenanstalt" fragt sich der empfindsame und klassisch gebildeter Pfarrer Rang, ob es nicht besser wäre, diese "Arbeitsunfähigen und in höherem Sinn Lebensunfähigen zu vergiften", wo doch Geld aufgebracht werden muss, um sie am Leben zu erhalten. Bei der Auseinandersetzung mit ihren Vorfahren bleibt es nicht die einzige Überraschung. Denn unter ihren Ahnen befindet sich mit ihrem Großvater auch ein "glühender Nazi".
Lebensgeschichte ihres Urgroßvaters
Anne Weber geht der Lebensgeschichte ihres Urgroßvaters nach, indem sie zu den Orten fährt, an denen er gewirkt hat und seine Text liest, die im Berliner Benjamin-Archiv verwahrt werden. Doch diese subtile Erschreibung eines Urgroßvaterbildes ist sehr viel mehr als nur Ahnenforschung in eigener Sache. Weber hinterfragt in ihrem außergewöhnlichen Buch auch jene Zäsur, von der sie dem Großvater erzählen müsste, würde er sie fragen, was sich nach seinem Tode Erzählenswertes ereignet hat. Von Auschwitz müsste sie erzählen. Für sie ist es schwierig, dieses Wort einfach in den Mund zu nehmen – denn es stellt sich die Frage: Wie es sagen, wie aussprechen, wofür dieses Wort steht?
Florens Christian Rang, den Walter Benjamin den "tiefsten Kritiker des Deutschtums seit Nietzsche" nannte, ist der Vorwurf zu machen, vorgedacht zu haben, was wenige Jahre nach seinem Tod zur grausamen Praxis im Umgang mit geistesgestörten Menschen wurde. Wie ist vor diesem Hintergrund "Deutschtum" zu definieren und wie geht eine 1964 geborene Deutsche mit diesem Erbe um?
Diesen Fragen stellt sich Anne Weber. Milde gegenüber dem Urgroßvater lässt sie dabei nicht walten. Alle im Zusammenhang mit seinem Tagebucheintrag zu stellenden Fragen werden gestellt. Dabei ist die Sprache, wie es Anne Weber einmal gesagt hat, ist ihre Komplizin. Sie ist es auch in diesem "Zeitreisetagebuch", in dem entscheidende Jahrzehnte der deutschen Geschichte vermessen werden. Tastend und sprachlich äußerst behutsam begibt sich Anne Weber in ihrem glänzend geschriebenen Buch auf eine ungewöhnliche Geschichtsexkursion, die einen ganz eigenen Sog entwickelt.

Belletristik: "Ahnen - Ein Zeitreisetagebuch"
S.Fischer Verlage, Frankfurt am Main, 2015
272 Seiten, 17,99 Euro