Roma in Ungarn

Kein Interesse für die Opfer

Roma in Ungarn, Oktober 2013
Einige leben in bitterster Armut - Roma in Ungarn © picture alliance / dpa / Tamas Soki
Von Keno Verseck  · 03.09.2014
Im August 2009 wurden in Ungarn mehrere Rechtsterroristen gefasst: Sie hatten sechs willkürlich ausgewählte Roma erschossen und 55 Menschen verletzt, ebenfalls fast alle Roma. Die Mordserie ist bis heute nur ansatzweise aufgearbeitet.
"Schlaft, es ist nur der Wind!“, sagt die Mutter zu ihren Kindern. Doch der Junge hört sie kommen.
"Sie sind da", schreit der Junge. "Raus, raus!" Sie laufen aus dem Haus, direkt vor die Schrotflinten der heimtückischen Mörder, die im Dunkel der Nacht lauern.
So passiert es in der vorletzten Szene des Filmes "Nur der Wind" des ungarischen Regisseurs Bence Fliegauf. Der international preisgekrönte Spielfilm erzählt die fiktive Geschichte einer Roma-Familie, die von rassistischen Mördern erschossen wird. Sie basiert auf wahren Ereignissen. In den Jahren 2008/2009 ermordeten rechtsextreme Terroristen in Ungarn bei Anschlägen sechs Roma, darunter einen vierjährigen Jungen, und verletzten 55 Menschen, ebenfalls fast alle Roma, zum Teil lebensgefährlich. Den letzten Mordanschlag verübten sie am 3. August 2009, drei Wochen später wurden sie gefasst: vier Männer mittleren Alters mit einschlägiger rechtsextremer Vergangenheit.
Heute, fünf Jahre später, ist die Geschichte dieser Mordserie in Ungarn nur ansatzweise aufgearbeitet: Zwar wurden drei Täter vergangenes Jahr zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt, ein Komplize zu 13 Jahren, jedoch steht ein langes Berufungsverfahren bevor. Zum anderen spielten ungarische Geheimdienste während der Romamordserie, ähnlich wie bei den NSU-Morden, eine zwiespältige Rolle: So etwa gaben sie während der Mordserie wichtige Erkenntnisse über die Täter nicht an die Ermittler weiter. Die genauen Umstände werden derzeit untersucht. Außerdem fahnden Ermittler noch nach mutmaßlichen Mittätern und Helfershelfern. Vor allem aber: Die meisten überlebenden Opfer und Angehörigen der Mordserie leben in tiefster Armut – eine Folge der Anschläge, aber auch des öffentlichen Desinteresses an den Opfern.
Angehörige trauern im August 2009 im ungarischen Dorf Kisleta am Sarg der ermordeten Roma Maria Balogh.
Angehörige trauern im August 2009 im ungarischen Dorf Kisleta am Sarg der ermordeten Roma Maria Balogh.© picture-alliance / dpa / Attila Balazs
Erinnerungen eines Anschlagopfers
Krisztián Rontó schaut aus dem Fenster seines Wohnzimmers. Der junge Mann zeigt auf den Tatort. Da drüben, auf der anderen Seite des Flusses, stand der Schütze, 70 Meter entfernt, versteckt zwischen Büschen:
"Der Anschlag war am 15. Dezember 2008, es regnete und war schon dunkel, es passierte so gegen vier, halb fünf. Ich ging nach draußen, um Holz zu zersägen. Da kam der erste Schuss. Das Projektil schlug in die Mauer ein. Ich dachte, jemand spielt mit Böllern. Ich ging auf die Straße, um nachzuschauen, sah aber nichts. Dann nahm ich das Holz auf den Arm und wollte ins Haus gehen. Als ich vor der Tür stand, kam der zweite Schuss. Auch da dachte ich, es ist ein Böller, diesmal, dass ich auf ihn getreten sei, denn ich hatte ein Gefühl im linken Bein, als ob ich einen Stromschlag bekommen hätte. Plötzlich spürte ich etwas Heißes in der Beckengegend. Blut floss an mir herunter. Dann verlor ich das Bewusstsein und brach zusammen. Ich wachte erst wieder auf der Intensivstation auf."
Krisztián Rontó, 25 Jahre alt, schmal, hoch aufgeschossen, dunkelblondes Haar, wohnt in dem nordostungarischen Dorf Alsózsolca. Er wirkt völlig arglos und noch fast jungenhaft. Rontó hat die 8. Klasse abgeschlossen und ein paar Jahre lang auf Baustellen gejobbt. Drei Monate vor dem Mordanschlag hatte er eine spezielle Berufsschulausbildung für Roma-Jugendliche in der nahegelegenen Großstadt Miskolc begonnen – er träumte davon, die neunte und zehnte Klasse zu schaffen und Malermeister zu werden. Doch die Mörder zerstörten seinen Traum: Nach dem Anschlag kämpften die Ärzte tagelang um sein Leben, es dauerte Monate, bis er wieder normal essen und laufen konnte.
Länger andauernde körperliche Arbeit kann Krisztián Rontó nicht mehr verrichten und konnte deshalb auch die Berufsausbildung nicht beenden.
"Meine Harnblase, mehrere Adern und inneres Gewebe waren verletzt, mein Steißbein war zersplittert. Das Projektil war durch mich hindurchgegangen und hatte ein vier Zentimeter großes Loch hinterlassen. Innen war alles zerfetzt. Mein linkes Bein spüre ich nicht mehr, weil durch die Schussverletzung mehrere Nervenstränge zerstört wurden. Im Oberschenkel spüre ich noch etwas, aber an der Wade und Fußsohle nichts mehr. Als ich aus dem Krankenhaus kam, sagte der Arzt, dass der Zustand meines Beines sich in fünf bis zehn Jahren verschlechtern werde, ich würde Schmerzen haben, schwerer gehen und vielleicht in einen Rollstuhl kommen. Gott sei Dank ist es noch nicht so schlimm. Aber wenn ich länger laufe, dann schwillt das Bein an, im Oberschenkel spüre ich Stiche, und manchmal bekomme ich Krämpfe.
Leben in Angst und Armut
Krisztián Rontó lebt in einem Haus am Dorfrand von Alsózsolca, in der so genannten "Zigeunersiedlung", wie sie heißt – ein Slum, in dem die meisten Roma des Ortes wohnen. Rontó, seine Frau und seine drei kleinen Kinder teilen sich ein einziges Zimmer, knapp 20 Quadratmeter, nebenan, im anderen Zimmer, leben die Eltern und ein Bruder. Es gibt keine Küche, kein Bad, kein fließendes Wasser, und die Toilette, ein Bretterhäuschen mit Grube, steht im Hof. Hilfe vom ungarischen Staat, welcher Art auch immer, bekam Rontó nach dem Mordanschlag nicht. Er und seine Familie leben von etwa 250 Euro monatlich – Sozialhilfe und Kindergeld.
Krisztián Rontó kümmert sich sehr viel um seine drei kleinen Kinder – aber er glaubt nicht, dass es in seinem Leben noch jemals irgendeine Art von Normalität geben werde:
"Nachdem sie mich aus dem Krankenhaus entlassen hatten, habe ich drei, vier Monate lang in großer Angst gelebt. Wenn es dämmerte, ging ich nicht mehr hinaus. Auch auf die Toilette im Hof wagte ich nicht, allein zu gehen, meine Frau oder mein Vater begleiteten mich. Nachts schlief ich nur ein, zwei Stunden, erwachte bei jedem Geräusch und stand ständig auf. Bis heute ist es so, dass ich nicht gut schlafe und abends nicht auf die Straße gehe. Welches Recht hatten die Mörder, über das Leben anderer zu urteilen?! Zu entscheiden, wer Zigeuner ist, wer zu den Roma zählt?! Nein, das war nicht ihr Recht! Für sie sollte es auf dieser Erde keinen Platz mehr geben."
Ein ähnliches Leben wie Krisztián Rontó führen auch die meisten anderen Überlebenden der Romamordserie und ihre Angehörigen. Sie wohnen überwiegend noch an den Tatorten und sind fast alle abgerutscht in tiefste Armut. Sie erhielten niemals psychologische Betreuung, verloren ihre Arbeitsplätze. Einige Überlebende müssen als Folge der Mordanschläge mit lebenslangen Verletzungen und Behinderungen leben, manche Angehörige erkrankten psychisch und physisch schwer.
Keine öffentliche Würdigung der Opfer
Eine öffentliche Würdigung erfuhren die Opfer der Romamordserie in Ungarn nie. Es gab keine staatliche Gedenkfeier für sie – anders als in Deutschland, es gab keine Einladung des Staats- oder Ministerpräsidenten. Obwohl die sozialistisch-liberale Regierung, in deren Amtszeit die Morde verübt wurden, die staatlichen Ermittlungspannen eingestand, entschuldigte sich bis heute keiner ihrer Vertreter bei den Opfern. Dabei waren die Pannen schwerwiegend: Lange Zeit wurden Spuren ins rechtsextreme Milieu nicht ernsthaft verfolgt, bei der Spurensicherung an Tatorten geschlampt.
Mehr noch: Geheimdienste hatten zwei Täter jahrelang überwacht, standen in direktem Kontakt zu einem Komplizen, gaben jedoch diese Erkenntnisse nicht an die Ermittler weiter. Nachdem die Täter im August 2009 gefasst waren, verschwand das Thema aus den ungarischen Medien weitgehend.
Die Gründe dafür beschreibt der ehemalige liberale Parlamentsabgeordnete József Gulyás, der 2009 einen Untersuchungsausschuss zu den Romamorden leitete, so:
"Man sieht, dass es sowohl der ehemaligen als auch der jetzigen Regierung peinlich ist, dass es so eine Mordserie gab, sie ist ja einzigartig in Osteuropa, und deshalb meint man, es ist besser, nicht zu viel darüber zu sprechen. Der Staat und die Behörden möchten das Ganze am liebsten schnell abschließen, man reagiert schamhaft. Wenn die Behörden tiefer gehen und alles Mögliche zutagefördern würden, dann würde es sehr unangenehm werden. Man möchte die Sache lieber mit minimaler medialer Öffentlichkeit hinter sich bringen."
Auch Entschädigungen bekamen die Opfer vom Staat bis vor Kurzem nicht. Erst ein Mitglied der national-konservativen Orbán-Regierung änderte das: Zoltán Balog, Minister für Soziales, Kultur, Familie und Minderheiten. Auf seine Initiative hin stellte die Regierung im Herbst vergangenen Jahres eine humanitäre Opferhilfe in Höhe von insgesamt etwa 220.000 Euro zur Verfügung. Vor wenigen Wochen – also fünf Jahre nach den Morden – begann die Auszahlung: Überlebende und Angehörige erhielten im Schnitt zwischen vier- und siebentausend Euro. Das soll aber nicht das Ende sein, meint Minister Balog. Nach Ende des Berufungsprozesses, wenn ein rechtskräftiges Urteil vorliegt, sollten die Angehörigen Entschädigungsklagen gegen den Staat anstrengen. Dann könnte es weitere Zahlungen geben.
Der Minister persönlich findet es auch wichtig, dass weiter ermittelt wird, und er zieht dabei Parallelen zu den NSU-Morden in Deutschland:
"Die Parallelen sind offensichtlich. An einem Punkt, wo der Geheimdienst einen Kontaktmann hatte in diesem kriminellen Milieu, das war in Deutschland so, in Ungarn so, und in dem wichtigen Moment, wo sie hätten daraus Informationen haben können und vielleicht einen Mord noch hätten verhindern können oder in Deutschland mehrere Morde. Dort haben sie versagt und da frage ich mich, warum haben sie versagt? War das Absicht, welche Motivation war das, war das Fahrlässigkeit oder was auch immer, und das ist der Punkt, wo wir nachhaken müssen, eindeutig."
Die Polizei verwischte Spuren
Jeden Tag, wenn die Dämmerung anbricht, dann kommt auch die Angst zu Erzsébet Csorba, ihren Kindern und ihren Enkeln. Das Dorf Tatárszentgyörgy, 60 Kilometer südlich von Budapest, die letzten Häuser vor dem Wald. Hier lauerten die Mörder in der Nacht des 23. Februar 2009. Sie zündeten eines der Häuser an und schossen dann mit Schrotflinten auf die flüchtende Familie. Sie töteten den Vater Róbert Csorba, 28 Jahre, und seinen vierjährigen Sohn Róbika – der Vater hatte seinen kleinen Sohn auf dem Arm gehabt und war direkt vor die Schrotflinten der Mörder gelaufen.
Ein Tatort nach einer "Treibjagd" von Rechtsradikalen auf Roma in Ungarn: Ein abgebranntes Haus im Dorf Tatárszentgyörgy, aufgenommen am 24.2.2009
Ein Tatort nach einer "Treibjagd" von Rechtsradikalen auf Roma in Ungarn: Ein abgebranntes Haus im Dorf Tatárszentgyörgy© dpa / Sandor Ujvari
Am Morgen nach dem Mordanschlag spielten sich am Tatort ungeheuerliche Szenen ab: Örtliche Polizisten versuchten, der Familie auszureden, dass es sich um Mord gehandelt habe. Ein Polizist urinierte in die Fußspuren der Täter, während die Familie der Erschossenen Patronenhülsen einsammelte und den Polizisten brachte, um sie zu überzeugen, dass es Mord war. Über Stunden hinweg vergeblich. Erst auf Druck einer anwesenden Roma-Bürgerrechtlerin erschienen schließlich Spezialermittler des ungarischen Landeskriminalamtes NNI.
Erzsébet Csorba, die Mutter von Róbert und Großmutter von Róbika, denkt noch immer jeden Tag an die Szenen nach dem Mord.
"Bis heute spüren wir, wie die Polizei in Wirklichkeit über uns denkt. Damals haben sie Spuren bewusst verwischt. Dafür, dass sie hier solche Ermittlungsfehler begangen haben, sind sie niemals bestraft worden. Sie sind sogar befördert worden. Bis heute sprechen sie mit uns in einer Weise, als wenn wir Hunde und keine Menschen wären. Wo leben wir denn eigentlich? Solche große Macht haben sie, dass sie sich das erlauben!"
Vor Trauer versteinert
Erzsébet Csorba weint nicht, wenn sie erzählt. Sie wirkt wie versteinert vor Trauer. Letztes Jahr starb ihr Mann - aus Kummer über die Morde am Sohn und am Enkel, sagt sie. Erzsébet Csorba ist 50 Jahre alt, hat selbst acht Kinder, sechs sind noch minderjährig. Sie leben alle zusammen, in einem Haus mit drei Zimmern, gleich neben dem Ort des Mordes. Der Alltag mit ihren Kindern lässt Erzsébet Csorba funktionieren. Aber eigentlich ist die Welt für sie stehen geblieben nach dem Mord an ihrem Sohn und ihrem Enkel.
"Es ist schwer, hier zu leben. Wir wachen jeden Tag mit den Erinnerungen auf. Wir gehen heraus in den Hof und sehen die Ruine des Haus, in dem mein Sohn lebte. Es ist schwer. Aber wir können nicht weg. Doch ich möchte weg hier, weil wir Angst vor denen haben, die noch frei herumlaufen. Es waren nicht nur die vier Täter, die vor Gericht standen. Ich denke, diejenigen, die die Mörder angeleitet und geführt haben, sind noch frei. Und deshalb möchte ich weg hier, ich möchte, dass meine Kinder in Ruhe aufwachsen und ein ruhigeres Leben haben.
Dann sagt Erzsébet Csorba einen Satz, der fast genauso klingt wie der aus der vorletzten Szene des Filmes "Nur der Wind".
"Wenn draußen der Wind rauscht, wenn er etwas aufwirbelt, dann haben die Kinder schon Angst und schlafen nicht mehr."
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