Roland Schimmelpfennig: "An einem klaren..."

Neues vom Meister des Ungesagten

Ein Wolf in Brandenburg
Ein Wolf streift am 19.01.2016 durch sein winterliches Gehege im Wildpark Schorfheide in Groß Schönebeck (Brandenburg). © picture alliance / dpa / Foto: Patrick Pleul
Von Carsten Hueck · 22.02.2016
Ein Wolf streunt durch das winterliche Brandenburg und kreuzt den Weg einer depressiven Künstlerin, eines Alkoholikers, strauchelnder Jugendliche. Roland Schimmelpfennig hat ein Buch über Orientierungslosigkeit, soziale Kälte und unausgesprochene Gefühle geschrieben.
"Vor langer Zeit im Mai" oder "Keine Arbeit für die junge Frau im Frühlingskleid" – so lyrisch verspielte Titel tragen die Theaterstücke von Roland Schimmelpfennig. Sie sind in vierzig Sprachen übersetzt, der Dramatiker gehört zu den weltweit meistgespielten deutschen Bühnenautoren, am Wiener Burgtheater genauso aufgeführt wie an der Berliner Schaubühne.
Schimmelpfennig, geboren 1967, ist ein mit vielen Preisen ausgezeichneter Theatermann – nun legt er seinen ersten Roman vor. Und feiert damit noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin mehr als einen Achtungserfolg: "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" – so der Titel des Buches und gleichlautend auch der Beginn seines ersten Satzes – ist bereits nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.
Die 250 Seiten als Roman zu bezeichnen, weckt indessen falsche Erwartungen. Schimmelpfennig hat hier einen Text verfasst, der sich vielmehr sofort als Drehbuch empfiehlt. Zu einem in und um Berlin herum angesiedelten winterlichen Gegenstück des im sonnigen Kalifornien spielenden, melancholischen Episodenfilms "Magnolia" von Paul Thomas Anderson (1999). Dieser verbindet viele kleine Geschichten, und auch Schimmelpfennig arbeitet so kleinteilig.
Er arrangiert Puzzlestücke, fügt Ausschnitte von Beziehungen aneinander, die am Ende einen Zusammenhang für den Leser erkennen lassen, jedoch ohne dass die Protagonisten selbst davon wissen. Dass sie in die Geschichten der jeweils anderen hineinwirken oder diese zumindest tangieren, protokolliert ein Erzähler. Der Autor lässt ihn als nüchternen und zugleich höchst aufmerksamen Chronisten sprechen.

Die Figuren wirken ausgeliefert

Sein Ton ist ruhig, das Erzähltempo verlangsamt. Es ist Januar, Wälder und Straßen in Brandenburg sind verschneit, in der deutschen Hauptstadt ist es bitter kalt. Winter grundiert Schimmelpfennigs Text, die Figuren wirken ausgeliefert – einem eisigen Schicksal und sich selbst. Erschöpfung, stille Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit kennzeichnen sie. Ihre Lebensumstände sind trist, Perspektiven gibt es keine.
Sie bewegen sich, ohne vom Fleck zu kommen – depressive Künstlerin, Alkoholiker, Barbetreiber mit Migrationshintergrund, polnischer Arbeiter oder strauchelnde Jugendliche – sie ähneln dem Wolf, der von Polen aus bis auf das S-Bahn Gelände der deutschen Hauptstadt vordringt. Er ist unterwegs, doch ohne festes Ziel. Fest ist allein die Topographie, durch die sich Mensch und Tier bewegen, und die der Autor, als wollte er einen letzten Halt bieten, unaufhörlich zitiert.
Schimmelpfennig ist ein Meister des Ungesagten. Auch des Leisen, der genauen Andeutung, des Umkreisens von Motiven. Manchmal erinnert der Sound seiner Menschen-und Situationsbeobachtungen an den des jungen Botho Strauss.

"An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts" ist ein berührendes Buch, das ganz behutsam und sehr gekonnt eine vorherrschende Stimmung einfängt – die der Orientierungslosigkeit und der sozialen Kälte, des unausgesprochenen Gefühls, über das eigene Leben nicht verfügen zu können.

Roland Schimmelpfennig: "An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts"
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2016
254 Seiten, 19,99 EUR

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