Psychosomatik-Abteilung aus "Elternschule"

Ein Baby, das sich Haut vom Kopf kratzte

06:40 Minuten
Durch eine Scheibe ist eine Klinikmitarbeiterin zu sehen, die mit einem kleinen Jungen am Tisch sitzt.
Viele offene Fragen: Szene aus dem Film "Elternschule", der die Psychosomatik der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen bekannt machte. © picture alliance//Zorro Film /dpa
Timo Grampes im Gespräch mit Dieter Kassel · 14.09.2020
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Die psychosomatische Abteilung der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen schließt - offiziell aus wirtschaftlichen Gründen. Der Film "Elternschule" zeigte ihre umstrittenen Behandlungsmethoden. Timo Grampes hat die Hintergründe recherchiert.
Dieter Kassel: In dem ziemlich bekannten und umstrittenen Dokumentarfilm "Elternschule" aus dem Jahr 2018 geht es um die Arbeit der psychosomatischen Abteilung der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen. Der Film und auch die Arbeit dieser Klinik wurden kontrovers diskutiert, auch hier bei uns im Deutschlandfunk Kultur.
Nun wurde an diesem Wochenende bekannt, dass diese Abteilung, die man aus dem Film kennt, geschlossen wird wegen sinkender Patientenzahlen und damit aus ökonomischen Gründen, wo man sich natürlich sofort fragt, ist das wirklich die ganze Geschichte?
Ich spreche jetzt mit meinem Kollegen Timo Grampes, den Sie aus unserem Programm kennen, der sich ein halbes Jahr lang ungefähr zusammen mit Armin Himmelrath vom "Spiegel" mit einer Recherche rund um diese Abteilung dieser Klinik beschäftigt hat.
Das ist natürlich erst mal viel, ein halbes Jahr, vor allem, wenn man sich die Details anguckt: Ihr beide habt Gespräche mit ehemaligen Patientinnen, mit Ex-Personal und -Wissenschaftlern geführt. Ich glaube, 2000 bis 3000 Seiten Lektüre könntest du mir theoretisch bieten. Was macht diesen großen Aufwand überhaupt nötig?
Grampes: Aus unserer Sicht, dass viel über den Film und die Abteilung berichtet und geredet worden ist, ohne allerdings Wesentliches zum Thema zu machen: Geschichte, Netzwerk und vor allem Diagnosen, Behandlungsmethoden und behauptete Behandlungserfolge der Psychosomatikabteilung in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen.
Kassel: Aber machen wir es doch mal konkret, hast du ein Beispiel für Behandlungsmethodik und Diagnosen, die eigentlich ein Thema sein müssten, wenn man über die Arbeit dieser Abteilung spricht?
Grampes: Ja, "Neurodermitis bei Trennungsangst", ganz konkret. Diese Diagnose, die einen Zusammenhang herstellt zwischen Neurodermitis und einem Angstzustand, der entstehen kann etwa bei der Trennung von einer Hauptbezugsperson.
Diese Diagnose steht in den Behandlungsunterlagen eines Säuglings, Fritz Wagner, den Namen haben wir zum Schutz des Kindes verändert. Wir haben ausführlich mit seiner Mutter und seiner Großmutter gesprochen, denn auf diesem Klinikaufenthalt, der hat stattgefunden ein Jahr, bevor "Elternschule" in die Kinos gekommen ist, da folgte ziemlich viel, unter anderem eine Gerichtsverhandlung.
Fritz Wagner ist also 2017 im Alter von sechs Monaten stationär aufgenommen worden in der Psychosomatikabteilung zusammen mit seiner Mutter – und er hat diese Diagnose bekommen, Neurodermitis bei Trennungsangst. Und die haben wir unter anderem Kai von Klitzing vorgelegt, Kinderpsychiater und Klinikdirektor am Universitätsklinikum Leipzig, der zu dieser Diagnose sagt:
O-Ton Klitzing: Die ist unwissenschaftlich und völlig unhaltbar. Es suggeriert ja noch ein Schuldgefühl an die Eltern, dass sie da irgendwie ein Trennungstrauma herbeigeführt haben. Wenn ein Säugling mit sechs, sieben Monaten Trennungsangst hat, dann sagt man, das ist ein normales Phänomen.

Ein Buch über Spontanheilung bei Neurodermitis

Kassel: Also, man kann das, glaube ich, so sagen, eine unhaltbare Diagnose, Neurodermitis bei Trennungsangst. Aber wo könnte denn so eine Idee, so eine Diagnose herkommen?
Grampes: Ja, da zeigen sich deutliche Verweise auf Ernst August Stemman, ehemals ärztlicher Leiter der Kinderklinik Gelsenkirchen. Der hat 2002 ein Buch herausgebracht im Selbstverlag, das heißt "Selbstheilung – Spontanheilung der Neurodermitis. Das Gelsenkirchener Behandlungsverfahren". Und da steht wörtlich drin, ich zitiere: "Minutiöse Analysen des Lebens Erkrankter haben ergeben, dass dem erstmaligen Auftreten neurodermitischer Hauterscheinungen ausnahmslos (!) eine Trennung, ein Verlusterlebnis vorausgegangen ist, und danach sind die Betroffenen auch trennungsempfindlich (...)." Zitat Ende.
Kassel: Und was ist jetzt aus dem, was du gerade zitiert hast, was ist die Konsequenz für die Behandlung dann?
Grampes: Dass Eltern und Kinder zwischendurch immer wieder getrennt werden, das Kind müsse die angstfreie Trennung erlernen, selbst unter dem Preis, dass es sich blutig kratze. Das schreibt Stemman, also im Buch aus dem Jahr 2002. Und in den Behandlungsunterlagen von Fritz Wagner im Jahr 2017 findet sich ein Behandlungsplan voll mit sogenannten Bindungs-Trennungstrainings.
Das kann zum Beispiel bedeuten, die Eltern hören sich einen Vortrag an über 90 Minuten, während sich die Kinder in einem anderen Raum aufhalten. So schildert es auch die Mutter von Fritz Wagner, sie hat die Behandlung am vierten Kliniktag abgebrochen, nachdem sie einen Vortrag gehört hat, während dem ihr Baby in einem anderen Raum war.
Und sie fand ihren Sohn dann, erzählt sie, als sie ihn abholen wollte aus diesem Raum, inmitten mehrerer Kinder, alle panisch, ihr Baby auf einem blutigen Bettlaken ohne Kratzschutz, Handschuhe und Nuckel. Sie sagt, Fritz habe sich die Kopfhaut komplett runtergeholt mit den Händen und das Personal im Raum habe das nicht interessiert, das habe gelächelt, als wenn alles in Ordnung wäre.

Die Klinik klagte gegen die Großmutter

Kassel: Und was hatte das für Folgen, also mal abgesehen davon, dass diese Mutter die Behandlung dann abbrach, was hatte das darüber hinaus für Folgen?
Grampes: Unter anderem folgte daraus ein Gerichtsprozess. Die Klinik hatte gegen die Großmutter von Fritz Wagner geklagt wegen Verbreitung unwahrer Tatsachenbehauptungen und Schmähkritik. Die Großmutter hatte wegen der Behandlung ihres Enkels nämlich unter anderem dem Deutschen Kinderschutzbund geschrieben.
Das Gericht, das darüber zu urteilen hatte, hat im Februar dieses Jahres entschieden, die Klage der Klinik sei ganz überwiegend unbegründet, und schreibt in der Urteilsbegründung, die Großmutter sei allein geleitet von der Sorge um soziale Belange der Allgemeinheit, indem sie Missstände aufdecken wolle. Die Klinik ist dagegen nicht vorgegangen, das Urteil ist rechtskräftig.
Kassel: Du hast natürlich mit deinem Kollegen vom "Spiegel" auch Fragen an die Klinik geschickt und auch versucht, mit denen direkt zu sprechen. Wie haben die darauf reagiert?
Grampes: Die Klinik behauptet mit Blick auf diesen Fall, dass es ein Herunterkratzen der ganzen Kopfhaut nicht gegeben habe. Zur Arbeit der Psychosomatikabteilung im Allgemeinen hieß es, sie steht für, Zitat, "(...) eine evidenzbasierte Medizin, (…) eine wissenschaftlich-empirisch abgesicherte Medizin."
Wir haben aber trotz größter Mühe keine wissenschaftlich seriöse Studie finden können, die dem Behandlungsansatz der Psychosomatikabteilung Evidenz gibt, Beweiskraft. Wir haben trotz größter Mühe auch keinen Nachweis finden können für die Behauptung: Heilung in "zumindest 87 Prozent der Fälle". Diese Behauptung stand bis Mai noch auf der Klinikwebseite. Jetzt nicht mehr – wie doch so einiges, was zum Recherchestart noch im Netz unkompliziert abrufbar war. Und auf unsere Anfrage nach einem ausführlichen Interview wurde gar kein Bezug genommen.

Zwölf Seiten vom Anwalt

Kassel: Sondern?
Grampes: Stattdessen hat nach unserer zweiten Mail mit Fragen stellvertretend eine Anwaltskanzlei geantwortet mit einem zwölf Seiten langen Schreiben. Da steht dann am Anfang drin, dass wir daraus nicht zitieren dürfen. Die Kanzlei hat noch ein Statement angekündigt, vielleicht ist das ja zum Zitat freigegeben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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