Robert-Koch-Institut rechnet mit mehr Schweinegrippe-Fällen

Jörg Hinrich Hacker im Gespräch mit Jörg Degenhardt · 09.10.2009
Nach Ansicht des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI), Jörg Hinrich Hacker, kann es im Winter zu mehr und auch zu schwereren Fällen von H1N1-Infektionen kommen. Der Molekularbiologe warnte davor, sich von den bisher meist milden Krankheitsverläufen und geringen Fallzahlen in Deutschland dazu verleiten zu lassen, H1N1 zu unterschätzen.
Jörg Degenhardt: Ein bisschen hatte man sie schon vergessen, aber jetzt ist sie wieder in aller Munde: die Schweinegrippe. Gestern ist in Deutschland erstmals ein Mensch an dieser Grippe gestorben. Für den Tod einer 36-jährigen Risikopatientin im Universitätsklinikum Essen war demnach das H1N1-Virus verantwortlich. Gleichzeitig hat die beim Robert-Koch-Institut angesiedelte Ständige Impfkommission offiziell die Impfung gegen Schweinegrippe empfohlen. Alle Bevölkerungsgruppen könnten von der Immunisierung profitieren, empfohlen wird sie aber zunächst vorrangig für medizinisches Personal, chronisch Kranke und Schwangere. Am Telefon ist Jörg Hinrich Hacker, der Präsident des Robert-Koch-Instituts. Guten Morgen, Herr Hacker!

Jörg Hinrich Hacker: Guten Morgen!

Degenhardt: Was hat sich denn durch diesen gestrigen Tonfall geändert? Die epidemiologische Lage in Deutschland doch nicht, oder?

Hacker: Nein, die Lage hat sich nicht geändert. Wir haben ungefähr 22.000 Fälle in Deutschland insgesamt, hatten gestern zirka 500 neue Fälle. Wir können aber sagen, dass von der Epidemiologie her sich die Reduktion jetzt nicht mehr nachweisen lässt. Ob wir jetzt einen Trend bekommen, dass wir wieder steigende Zahlen haben, das werden die nächsten Tage ergeben. Ansonsten hatten wir ja immer schon gewarnt, dass wir auch in Deutschland mit Todesfällen rechnen müssen, in anderen Ländern sind ja bereits Todesfälle aufgetreten und dieser Fall in Essen hat sich jetzt auch entsprechend herauskristallisiert, dass das H1N1-Virus ursächlich für den Todesfall der Patientin verantwortlich ist.

Degenhardt: Sie sagen es, Herr Hacker: Andere europäische Länder haben bereits mehr H1N1-Todesopfer zu verzeichnen. Warum haben wir in Deutschland bisher Glück gehabt?

Hacker: Das mag daran liegen, dass die Maßnahmen, die wir getroffen haben, effizient waren, die intensivmedizinische Betreuung ist sicherlich in Deutschland sehr gut, und insofern haben wir bisher … ist ja auch ein Todesfall bisher erst, in anderen Ländern sind es sehr viel mehr, in Gesamteuropa haben wir über 170. Insofern haben wir bisher diese Welle recht gut überstanden, aber wir müssen einfach damit rechnen, dass wir im Winter dann mehr Fälle bekommen und dann auch mehr schwere Fälle durch H1N1.

Degenhardt: Ich habe gelesen, die meisten Neuinfektionen gebe es in Bayern. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Hacker: Das kann man so nicht erklären, es ist immer so, dass es territorial bestimmte Cluster gibt, wie wir sagen. Wir hatten im Sommer mal so ein Cluster in Nordrhein-Westfalen, jetzt in Bayern, das mag wieder abklingen. Das hängt zum Teil auch mit der Wetterlage zusammen, mit lokalen Faktoren, aber wir wissen, dass die Kollegen in Bayern sehr verantwortungsvoll – auch auf lokaler Ebene, auf Landesebene – versuchen, mit der Seuche umzugehen.

Degenhardt: Die Krankheit verlief in den meisten Fällen eher mild. Experten schließen jetzt aber eine zweite, heftigere Krankheitswelle im Herbst nicht aus. Mit der Massenimpfung gegen den Erreger soll in der zweiten Oktoberhälfte begonnen werden. Ist das nicht zu spät?

Hacker: Na ja, bisher ist es in der Tat so, dass bei den meisten Fällen die Erkrankungssymptome mild verlaufen. Was jetzt den Zeitpunkt der Impfung angeht, so muss man davon ausgehen, dass wir erst Ende April, Anfang Mai mit dem neuen Virus konfrontiert wurden, dass dann die entsprechenden Vorbereitungen getroffen werden mussten, das Virus musste angezüchtet werden, musste charakterisiert werden, dann in den entsprechenden Firmen wurde der Impfstoff hergestellt. Ich denke, wenn wir jetzt im Oktober mit der Impfung beginnen, so ist das ein Zeitpunkt, der sinnvoll ist und wir werden jetzt … am 26. Oktober können die ersten Personen geimpft werden, und wenn das dann sukzessive weiterläuft, so ist das ein Zeitpunkt, der gut ist.

Degenhardt: Es gibt Menschen, die empfinden die Impfung als unnötig, die glauben nicht an die Wirkung, die fühlen sich sogar als Versuchskaninchen. Können Sie diese Haltung verstehen?

Hacker: Nein, das kann ich nicht verstehen. Impfung ist bei Infektionskrankheiten ja immer die beste Form der Prävention und ist natürlich nötig, wenn ein neues Virus auftritt, ein neues Grippevirus, was sich weltweit ausbreitet. Dann ist es nötig, dass eine Impfung zur Verfügung steht. In Deutschland ist natürlich die Impfung freiwillig. Jeder, der sich impfen lassen möchte, sollte sich auch impfen lassen können, aber die Impfung ist freiwillig. Jeder muss sich entscheiden oder kann sich entscheiden und Sie hatten ja schon darauf hingewiesen, dass die Ständige Impfkommission zunächst bestimmte Gruppen definiert hat, es wird empfohlen, dass sich diese Gruppen dann als erste impfen lassen.

Degenhardt: Für wen ist denn eine Impfung nicht zu empfehlen?

Hacker: Ach, das können wir so im Moment nicht sagen. Wir sagen, dass sie besonders empfohlen wird bei bestimmten Risikogruppen, bei chronisch Kranken, auch bei Schwangeren, wobei bei Schwangeren die individuelle Situation besonders berücksichtigt werden soll, auch Medizinpersonal sollte geimpft werden. Die Impfkommission hat jetzt keine Aussage gemacht über Personen, die für die öffentliche Sicherheit und Ordnung verantwortlich sind, aber wir wissen das auch aus anderen Ländern und auch für Deutschland gilt es, dass auch dieser Personenkreis mit als erstes geimpft werden sollte und wir glauben aber – und das ist auch die Meinung der Ständigen Impfkommission –, dass auch alle anderen Bevölkerungsgruppen von der Impfung generell profitieren würden.

Degenhardt: Manche vermuten ja Geschäftemacherei der Pharmaindustrie mit Grippemitteln und mit Impfstoffen, andere raten dringend zur Vorsicht und Vorsorge. Verstehen Sie, dass die Menschen mittlerweile verunsichert sind oder manche sogar mit Desinteresse reagieren?

Hacker: Na ja, man muss, glaube ich, hier die Balance halten, einerseits ist Panik und Angst immer ein schlechter Ratgeber, man muss die Lage analysieren und dann entsprechend handeln, aber wir dürfen das Virus auch nicht unterschätzen, auch wenn wir jetzt im Spätsommer, im frühen Herbst geringere Fallzahlen hatten, milde Verläufe hatten. So hat das Virus Potenzial, sich weiter zu entwickeln, weiter zu verändern und es sieht so aus, dass wir das Tal sozusagen durchschritten haben, dass die Fallzahlen entweder konstant bleiben oder möglicherweise auch wieder steigen. Insofern müssen wir uns auf das Nötige vorbereiten und das tun wir.

Degenhardt: Jörg Hinrich Hacker, der Präsident des Robert-Koch-Instituts. Vielen Dank für das Gespräch!

Hacker: Ja, danke schön!