Risse im Aussteigeridyll

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 04.01.2006
"Die Anderen", der vierte Roman der Hamburgerin Katja Henkel, spielt an einem Strand in Südindien. Dort lebt eine Gruppe von deutschen Aussteigern, bis eine junge Frau den scheinbaren Frieden gründlich durcheinander wirbelt. Denn sie kann dem weißen Strand, dem Meer und der Gluthitze wenig abgewinnen.
Weihnachten in Indien: Wärme, gutes Wetter, ein bisschen Erholung. Romy hat die üblichen Motive, als sie sich für das Strandparadies am Ozean entscheidet. Die Gegend ist allerdings etwas aus der Mode gekommen. In den 70ern war Goa das Mekka aller nirvanasüchtigen Lebenskünstler. Man fuhr in die ewige Sonne, betrieb Selbsterfahrung, um danach als anderer Mensch zurückzukehren oder für immer dort zu bleiben. Auf eine solche Gruppe trifft die junge Romy - deutsche Aussteiger, in die Jahre gekommene Hippies. Tagaus, tagein pflegen sie dieselben Gewohnheiten.

Man sitzt in der Bar, mal schweigend, mal bramarbasierend, lässt sich am Strand massieren, betrachtet allabendlich den Sonnenuntergang und hat sich wenig zu sagen. Romy beobachtet, lässt ihr Leben ebenso wie die anderen dahinfließen, aber sie bleibt am Rande. Denn sie hält nichts von Yoga, sie braucht keine Meditation. Dafür hält sie viel von Jack, dem alternden Anführer der Gruppe. Eine für sie aufregende Affäre beginnt. Doch auf ein kurzes ekstatisches Glück folgt eine quälende lange Phase der Distanzierung, die erst mal unerklärt bleibt. Wie so manches.

Die Beweggründe, die die Heldin zur Flucht aus Deutschland getrieben haben, sind rätselhaft, ebenso ihr wechselnd apathisches und impulsives Verhalten, und warum sie ein Psychopharmakum als möglichen Lebensretter in der Handtasche trägt, wird auch nicht enthüllt.

Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Katja Henkel erzählt ihre Geschichte aus zwei Perspektiven, die eine, die vermeintlich reale, entspringt der Vorstellungskraft der psychisch labilen Hauptfigur. Sie hat sich offenbar ihren Wünschen folgend ein neues Leben erträumt. Die Nächte mit Jack haben nie stattgefunden, nicht ihre Geständnisse, auch nicht ihre Kämpfe mit dessen Gefährtin, die Eifersuchtsszenen, in denen sie, die Neue, jeweils bravourös den Sieg davonträgt.

Die andere Geschichte, die wirkliche, liegt unter dem Hauptstrom der Erzählung wie ein zu schmales Bett, das der Flut der einfallsreichen Szenen nicht standhält. Von einem Kindheitstrauma ist in Anspielungen die Rede, von einer schwierigen Mutterbeziehung, die ähnlich dunkel bleibt, von düsteren Fantasien mit masochistischer Grundierung. Es sind zu viele Geheimnisse, die nie aufgedeckt werden. So wirkt das Psychodrama am Ende reichlich konstruiert.

Dabei bräuchte der Roman dieses Raunen um vorsätzlich Abgründiges nicht. Denn Katja Henkel gewinnt in ihrem vierten Buch einem wahrhaft abgestandenen Motiv, dem Leben von Aussteigern, erstaunlich neue Seiten ab. Es gelingt ihr, die Atmosphäre um klischeeverdächtige Figuren so schillernd zu gestalten, dass man in das eintönige Strandleben unter Palmen förmlich hineingezogen wird. Wer sich da in Hängematten, Bambushütten und einsamen Buchten, ständig umweht von Schwaden dicker Joints, ausgeleierten Ritualen hingibt, wird mit wenigen Strichen gezeichnet.

Die Figuren, auch wenn ihnen keine ausführlichen Vorgeschichten gegönnt werden, entfalten ihre Eigenheiten wie in einer Typenkomödie. Neben sarkastischen Attacken auf weibliche Selbstbilder, auf männliche Selbstdarstellungsparaden, entwirft Katja Henkel aber auch eindringliche, minimalistische Charakterbilder. Von Mona, der schönen, verzweifelt heiteren Trinkerin, die niemals mehr in ein anderes Leben zurückfinden wird, oder von Melinind, dem indischen Knaben, der sich ratlos tapfer in dieser eigentümlichen Gesellschaft behauptet.

Katja Henkel, die immer schon ein Faible für unsichere, neurotische, unter äußerem und innerem Druck stehende Figuren hatte, lässt ihre Ich-Erzählerin, einfach in der Wortwahl und Syntax, Auskunft geben über ihr Innenleben und die Beobachtungen, die sie über die "Anderen" macht.

Als Sartre in seinem Stück "Hinter verschlossenen Türen" eine der Grundsentenzen des Existentialismus formulierte, hieß die: "Die Hölle, das sind die anderen". Katja Henkels Roman klopft davon das Pathos ab. Ihre "Anderen" sind die von nebenan, ohne Ehrgeiz, ohne Ziel, die, angeblich sich selbst erfahrend, nichts anderes erreichen wollen, als dass alles so bleibt, wie es ist.
Katja Henkel: Die Anderen
Klett-Cotta, Stuttgart, 2005
230 Seiten
19,50 Euro