Ringen um eine eigene Identität

03.01.2012
Der erste Roman von Tahmima Anam, "Zeit der Verheißungen", war ein internationaler Erfolg. Anam wurde 1975 in Dhaka in Bangladesch geboren und wuchs in Paris, New York sowie Bangkok auf. Sie lebt in London. Anams neuer Roman "Mein fremder Bruder" liefert eine Fortsetzung des Erstlings.
Dezember, 1971: Das einstige Ost-Pakistan, heute Bangladesh, hat nach einem grausamen Krieg die Unabhängigkeit errungen; die west-pakistanischen Truppen - besiegt mithilfe der indischen Armee - haben das Land bereits verlassen. Soldaten und Untergrundkämpfer kehren in ihre heimatlichen Dörfer und Städte zurück.

Einer von ihnen ist Sohail Haque, bekannt bereits aus Tahmima Anams erstem Roman "Zeit der Verheißungen", der von der Zerreißprobe einer Familie vor dem Hintergrund des ost-pakistanischen Unabhängigkeitskrieges handelte. Anams neuer Roman "Mein fremder Bruder" liefert also eine Art Fortsetzungsgeschichte, die aber problemlos auch für sich stehen kann.

Zwar geht es erneut um das Schicksal einer Handvoll Menschen und um die Geschichte Bangladeshs, wieder stehen Sohail, seine Schwester Maya und seine Mutter Rehana im Mittelpunkt. Und doch ist vieles anders. Denn der Roman spielt im Jahr 1984 - und es scheint, dass sich die einstigen Träume eines freien und geeinten Bangladesh unter Revolutionsführer Mujib, der das Land wie ein Diktator beherrscht, als Illusion erweisen. Das Land versucht, den Krieg, die Gräuel und die Toten zu vergessen. Zugleich hat die Religion das Land immer mehr im Griff. Die Gesellschaft ist gespalten in säkulare und glaubenstreue Muslime.

Was ist aus den einstigen Hoffnungen, was ist aus dem geliebten Vaterland geworden? Diese Frage muss sich auch Maya stellen, als sie nach sieben Jahren wieder nach Dhaka in das Haus ihrer Mutter kommt. Denn ihr Bruder, einst ein so überzeugter wie liberaler Revolutionär, hat sich in einen frommen Muslim verwandelt, der seinem kleinen Sohn aus Überzeugung die Schulbildung versagt.

Nur stückweise und in Rückblenden, die zwischen den Jahren 1971 und 1984 hin und her springen, setzt sich dem Leser mosaikartig zusammen, was geschehen ist: Warum Sohail als gebrochener Mann aus dem Krieg heimkehrt und allmählich den Glauben für sich entdeckt - und wie Maya dagegen revoltiert, aus Furcht, ihren geliebten Bruder an Gott zu verlieren. Zugleich erzählt Anam, die selbst 1975 in Dhaka zur Welt kam, von gescheiterten Utopien und dem Ringen ihrer Heimat um eine eigene Identität: Da sind etwa die Forderungen nach einem Volkstribunal, um endlich den im Krieg vergewaltigten Frauen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, denen Maya in Zeitungsartikeln Ausdruck verleiht.

Vor allem als westlicher Leser könnte man zunächst denken, der Roman sei auf der schlichten Dichotomie zwischen gutem und schlechtem Glauben, zwischen gemäßigtem und orthodoxem Islam aufgebaut. Aber man sollte an dieser Stelle zwischen den Zeilen lesen: Auch Mayas Intoleranz gegen den Glauben ihres Bruders wird verheerende Folgen haben.

Zum tragischen Ende hin droht das Gewicht des Privaten den politischen Gehalt des Romans stellenweise zu überlagern. Doch wo "Zeit der Verheißungen" noch teils unter einer allzu üppig-sinnlichen Sprache litt, hat Anam in "Mein fremder Bruder" zu einer klaren und doch eindringlichen Sprache gefunden, um von den Wunden zu erzählen, die Bangladeshs Geschichte in den Menschen hinterlassen hat.

Besprochen von Claudia Kramatschek

Tahmima Anam: Mein fremder Bruder
Aus dem Englischen von Anna Salmann
Insel Verlag, Berlin 2011
333 Seiten, 19,90 Euro
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