Ringen um ein fragiles Abkommen

Der Frieden in Kolumbien ist relativ

Tom Koenigs war als Sonderbeauftragter der UNO in Afghanistan, Guatemala und dem Kosovo.
Tom Koenigs war als Sonderbeauftragter der UNO in Afghanistan, Guatemala und dem Kosovo. © picture alliance / dpa / Marius Becker
Tom Koenigs im Gespräch mit Burkhard Birke · 30.09.2017
Tom Koenigs, Kolumbien-Beauftragter der Bundesregierung, blickt kritisch aber durchaus optimistisch auf den Prozess der Aufarbeitung von Militärverbrechen und Guerillakrieg in Kolumbien. Doch er warnt: Die Regierung dort müsse ihren Verpflichtungen gegenüber den Ex-Guerillakämpfern nachkommen.
Deutschlandfunk Kultur: Heute mit dem Grünen-Politiker Tom Koenigs, herzlich willkommen.
Tom Koenigs: Hallo.
Deutschlandfunk Kultur: Alles redet über Jamaika in Deutschland, Tom Koenigs, aber wir wollen mit Ihnen über Kolumbien sprechen. Denn seit zweieinhalb Jahren begleiten Sie auf Engste den Friedensprozess in Kolumbien. Sie sind der Kolumbienbeauftragte der Bundesregierung und werden dies auch bleiben, obwohl Sie sich ja entschlossen haben, nicht erneut für den Bundestag und für Ihre Partei, für die Grünen, zu kandidieren.
Sie waren ja auch aktiv im Kosovo, in Afghanistan, in Guatemala für die Vereinten Nationen in erster Linie. Was ist das Besondere am kolumbianischen Konflikt? Oder anders gefragt: Was reizt Sie an der Aufgabe des Kolumbienbeauftragten und was hat Sie daran gereizt?
Tom Koenigs: Zunächst mal ist das ein Land, das sich mir über die Literatur erschlossen hat, wie auch vielen anderen Deutschen. Wir lesen mit Begeisterung Garcia Márquez und der ist dort nach wie vor sehr präsent. Das war eigentlich mein Einstieg. Dann kenne ich sehr viele Leute aus den verschiedenen von Ihnen schon genannten Zusammenhängen.
Der menschenrechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Tom Koenigs
Der menschenrechtspolitische Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, Tom Koenigs© picture-alliance / dpa / Arne Dedert
Dieser Friedensprozess hat eine Eigenart, die wahrscheinlich auch noch viel Nachdenken erfordert. Er ist ausgegangen sehr stark von der Beteiligung der Opfer, der Opferverbände und hat dann eine Übergangsjustiz geschaffen durch einen Vertrag, der nun umgesetzt werden muss. Und Übergangsjustiz, oder nennen wir es Vergangenheitsbewältigung, ist natürlich ein Thema, das uns in Deutschland betroffen hat und sehr interessiert. Ob es dort gelingt, auch als Beispiel für andere Möglichkeiten, das ist die große Frage und das ist sehr spannend.

Nicht nur ein Abkommen, sondern Diskussion über Frieden

Deutschlandfunk Kultur: Darüber wollen wir heute intensiv sprechen. Aber lassen Sie uns vor allen Dingen auch für die Hörer noch einmal kurz rekapitulieren. Also, mit vielen Geburtswehen, unter anderem einem verlorenen Referendum, hat Kolumbien vergangenes Jahr nach vier Jahren Verhandlungen in Havanna einen Friedensvertrag mit der größten Guerilla-Gruppe des Landes zustande gebracht, mit den FARC, und versucht damit eben einen Schlussstrich unter einen mehr als fünfzig Jahre währenden Konflikt zu ziehen.
Mehr als acht Millionen Opfer, so die offizielle Bilanz des Konfliktes, an dem neben der Guerilla natürlich auch paramilitärische Verbände, die sogenannten Todesschwadrone, beteiligt waren, aber auch die Sicherheitskräfte der Regierung. Die Bilanz liest sich erschreckend. Insgesamt sollen in diesen fünfzig, 53 Jahren fast eine Million Menschen umgebracht worden sein. 166.000 gelten als verschwunden. Fast 35.000 waren entführt worden. Und mehr als sieben Millionen Kolumbianer wurden laut offiziellen Angaben vertrieben.
Knapp 7.000 Guerilleros der FARC haben jetzt ihre Waffen abgegeben und wollen sich in die Gesellschaft reintegrieren. Und vor gut einem Monat hat der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos den Konflikt mit den FARC, mit den revolutionären Streitkräften Kolumbiens, für beendet erklärt.
Ist Kolumbien wirklich friedfertiger geworden? Ist damit auch formell eine neue Ära in Kolumbien angebrochen?
Tom Koenigs: Es ist natürlich über die Diskussion über Frieden, den Friedensprozess, über Opfer, über Verbrechen in der Vergangenheit etwas angestoßen worden, das zwar das Volk gespalten hat, aber eine ungeheure Dynamik hat – sowohl im Inland als auch im Ausland, denn im Ausland wurde ja einhellig dieser Frieden gefeiert, obwohl er nur der Frieden mit einer der dortigen Gruppen ist, wenn auch der größten, und längst nicht sagt, dass damit Kolumbien ein ganz friedliches Land ist, weil es den Drogenkonflikt gibt, weil es kriminelle Banden gibt und weil es auch noch eine kleinere Guerilla gibt, die nach wie vor sozusagen auf den Pfaden von Che Guevara wandelt.
Deutschlandfunk Kultur: Sie meinen das Befreiungsheer, das nationale Befreiungsheer ELN, Ejercito de Liberacion Nacional. Da gibt es aber immerhin eine erfreuliche Nachricht. Denn ab dem 1. Oktober soll da ein Waffenstillstand in Kraft treten.
Tom Koenigs: Es gibt eine schon relativ lange andauernde Verhandlung, Vorverhandlung und seit einem Jahr dann Verhandlung in Quito, die wir auch von Deutschland intensiv unterstützen. Da hat man jetzt über die Vereinbarung eines Waffenstillstandes, mindestens temporären Waffenstillstand, mit Vermittlung des Papstes die Hoffnung, dass es vorangeht. – Alles sehr vorsichtig, alles nur schrittweise, alles ein sehr langfristiger Prozess, aber trotzdem einer, der Hoffnung macht.
Deutschlandfunk Kultur: Jetzt fahren Sie ja regelmäßig nach Kolumbien, Herr Koenigs. Es ist ja so, dass die 7.000 FARC-Kämpfer sich entwaffnet haben. Sie haben sich in 26 sogenannten Konzentrationszonen oder Lagern zusammengefunden. Man hat den Eindruck, als habe die Vorleistung der FARC jetzt alles das gemacht, was in dem Friedensvertrag steht. Also, die FARC hat das eingehalten, was sie versprochen hat.
Aber wenn man sich den Zustand der Lager anschaut, dass die Guerilleros teilweise unter Plastikplanen wie im Dschungel weiterhin leben und die Regierung noch nicht mal es geschafft hat, diese Lager vernünftig herzurichten, dass die Regierung eigentlich nur darauf aus war, die FARC zu entwaffnen, damit die Kuh vom Eis ist, und jetzt will man sich um die Reintegration dieser Menschen gar nicht mehr richtig kümmern. – Ist dieser Eindruck berechtigt?

Kritik kann Guerilla-Vertretern das Leben kosten

Tom Koenigs: Der Eindruck herrscht vor. Auch die Berichte der Vereinten Nationen sagen das. Man ist mit den Integrationsmaßnahmen weit hinterher. Und die Guerilla hat zum allgemeinen Erstaunen – sowohl der Gegner des Friedensprozesses als auch eigentlich der Befürworter – wirklich pünktlich und korrekt jeden einzelnen der vereinbarten Punkte erfüllt und rechnet jetzt damit, dass die Regierung das Ihre auch tut.
Die Regierung ist aber sehr viel weniger beweglich, weil sie einerseits die entsprechenden Regelungen durchs Parlament bringen muss, dann über die Gerichte Knüppel zwischen die Beine geworfen kriegt. Der Einzige, der wirklich hundert Prozent engagiert ist, ist der Präsident selber, der dafür ja auch den Friedensnobelpreis verdient und bekommen hat. Und jetzt geht es in eine Wahlkampagne für den neuen Präsidenten, so dass man Angst hat, dass manche Elemente dieses Vertrages nicht erfüllt werden.
Außerdem gibt es bei der Integration eine geschichtliche Erfahrung von einer Guerilla, die sich vor 15 Jahren demobilisiert hat und wo dann selektiv über Paramilitärs jede einzelne, der politisch den Kopf aus der Deckung gesteckt hat, ermordet worden ist. Da hat man jetzt natürlich Angst davor.
Deutschlandfunk Kultur: Die Angst scheint in der Tat berechtigt, denn nach meinen Erkenntnissen und Recherchen sind bislang schon acht ehemalige FARC-Kämpfer von paramilitärischen Verbänden ermordet worden seit der Demobilisierung. Gleichzeitig haben wir ein anderes enormes Problem in Kolumbien, dass auch allein in den neun Monaten dieses Jahres schon wieder vierzig, fünfzig Menschenrechtsvertreter und Gewerkschafter und sozial engagierte Vertreter von sozialen Gruppen ermordet worden sind. Also, von Frieden kann doch da eigentlich keine Rede sein.
Tom Koenigs: Der Frieden ist relativ. Und der Friedenprozess hat natürlich dazu geführt, dass einzelne Protagonisten gerade für den Frieden in herausgehobene lokale Positionen gekommen sind und sich dann auch angreifbar gemacht haben. Denen gegenüber stehen relativ starke paramilitärische oder – wie man jetzt sagt – ex-paramilitärische Verbände, die dann selektiv einzelne Leute ermorden. Das sind Menschenrechtsverteidiger, örtliche Führer, alles Vertreter des "Ja zum Frieden". Und die sind in hohem Maße bedroht und - in dem Maße, wie sie sichtbar werden - jetzt auch die FARC, denn man hat der FARC ja angeboten: Legt die Waffen nieder und nehmt die Stimmzettel! Macht eine politische Organisation. Dann könnt ihr sehen, ob ihr Mehrheiten für euer Projekt bekommt. – Das machen sie jetzt ganz genau.
Das führt aber zu einer öffentlichen Selbstdarstellung auch. Da müssen Leute hervortreten. Und die sind in hohem Maße gefährdet und es gelingt der Regierung nicht, diese so zu schützen, dass nicht manche von den Guerilleros jetzt denken: Ja, hätten wir doch noch unsere Waffen!

Internationale Unterstützung nötig

Deutschlandfunk Kultur: Sie sind jetzt der Kolumbien-Beauftragte der deutschen Regierung. Was kann denn die deutsche Regierung, was können Sie, was können deutsche Nichtregierungsorganisationen, was können die gemeinsam mit der Regierung tun, um eben gerade die Leben dieser Menschen zu schützen und eben die Demokratie in Kolumbien derart aufrecht zu erhalten, dass diese Menschen, die die Waffen niedergelegt haben, jetzt eben mit politischer Agitation ihre Ziele verfolgen dürfen?
Tom Koenigs: Also, wir haben erstmal gesehen in dem Verhandlungsprozess mit der FARC und sehen das jetzt auch mit der ELN, dass es beiden – der Regierung und den Guerilleros – sehr darauf ankommt, internationale Unterstützung zu gewinnen, denn man braucht ja für so einen Prozess, der kontrovers ist, Legitimation. Und der kommt von außen. Das ist die diplomatische Aufgabe, dass die Weltgemeinschaft, in dem Fall jetzt Deutschland sehr stark, sagt: Das ist richtig, diesen Weg zu gehen und so mit einem Konflikt fertig zu werden, der das Land hat ausbluten lassen.
Deshalb ist es sowohl für uns Deutsche richtig, zu zeigen, das ist der Weg, den wir eigentlich zur Konfliktlösung wollen oder zur Vorbereitung und für die Kolumbianer, wir haben die internationale Unterstützung. Das geht bis hinein in die ganz lokalen Organisationen oder die Opferverbände. Denen ist das sehr wichtig, dass die Welt sieht, hier wird Frieden gemacht und wir sind beteiligt.
Wir können natürlich darüber hinaus durch Entwicklungsprojekte ländliche Entwicklung fördern. Das ist ja eines der Hauptpetita der Guerilleros gewesen und auch einer der Hauptmängel in der Entwicklung von Kolumbien. Das ist ja ein reiches Land, ein schnell sich entwickelndes Land mit riesigen Wachstumsraten. Aber auf dem Lande ist eben nichts passiert. Da kann man mit Projekten helfen. Man kann ganz konkret auch Entminungsprojekte unterstützen, sowohl die Opfer als auch die Prävention, als auch die Demineure. Und man kann ökologische Projekte, die dem Land Zukunft geben, - das ist ein Land, wo der Urwald gerodet wurde und wird - unterstützen.

Trust-Fund von der Europäischen Gemeinschaft für Kolumbien

Deutschlandfunk Kultur: In welchem Umfang tut denn die Bundesregierung das? Gibt es da schon Zahlen? Und inwieweit ist das auch auf europäischer Ebene dann noch begleitet?
Tom Koenigs: Es gibt europäische Initiativen, auch einen Trust-Fund von der europäischen Gemeinschaft in der Größenordnung von siebzig, achtzig Millionen. Es gibt von den Vereinten Nationen einen Trust-Fund, an dem wir uns auch beteiligen. Und es gibt Projekte des Kredits über die KfW und Projekte der direkten Unterstützung, also finanzielle Unterstützung. – Das ist ein Volumen irgendwo von fünfzig Millionen im Augenblick - und der Kredit, das sind dann nochmal vierhundert Millionen zusätzlich.
Deutschlandfunk Kultur: Das scheint aber dennoch nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wenn man sich anschaut, dass die ländlichen Gebiete, aus denen sich die FARC zurückgezogen haben, immense Territorien sind. Das können wir uns in Deutschland gar nicht vorstellen. Aber die sind total unzugänglich. Ist diese zögerliche Haltung, die Sie, vorhin auch ein bisschen angeprangert haben, auf Seiten der kolumbianischen Regierung auch darauf zurückzuführen, dass es einfach eine Unmenge Geld kostet, diese ländlichen vernachlässigten Gebiete jetzt zu entwickeln?
Tom Koenigs: Das ist zweifellos richtig. Und ein Land mit einer so niedrigen Steuerquote, die ist noch nicht mal halb so hoch wie bei uns, hat natürlich keinen reichen Staat, der diese Entwicklung tragen könnte, so wie wir die Entwicklung von Ostdeutschland getragen haben und tragen. Es ist völlig unvorstellbar, dass man Steuererhöhungen zum Beispiel deshalb dort durchsetzt.
Schätzungen gehen dahin, dass die internationale Hilfe maximal fünf Prozent dessen, was dort an Investitionen und an Mitteln mobilisiert werden muss, beibringen kann. Das heißt, das ist ein kolumbianischer Prozess. Der ist auch in den Spezifika sehr typisch kolumbianisch. Und der muss auch aus dem Land selbst finanziert werden.
Deutschlandfunk Kultur: Aber schneidet sich die internationale Gemeinschaft nicht ins eigene Fleisch, wenn sie nicht stärker hilft? Denn gerade in den Gebieten, das sind jetzt auch belegbare Zahlen, ist der Koka-Anbau in der Zeit, seitdem die FARC verhandelt haben, seitdem die FARC angefangen hat, sich aus diesen Gebieten, aus der Kontrolle herauszuziehen, enorm gestiegen. Man spricht von Verdoppelung, Verdreifachung der Anbauflächen.
Tom Koenigs: Das wird von allen Seiten ein bisschen übertrieben, aber das Problem der Drogenwirtschaft ist eines, das durch diesen Friedensprozess nicht gelöst wird, und auch eines, das von einem Anbauland nicht gelöst werden kann.
Ich habe ja in meiner politischen Laufbahn in Durchgangsländern, in Anbauländern wie Afghanistan und jetzt in einem weiteren Anbauland in Kolumbien gearbeitet. Dieses Problem ist so nicht zu lösen. Da ist eine Verantwortung bei der Nachfrage. Jeder Anbau wird durch die Nachfrage befeuert. Und da ist eine Verantwortung in der gesamten Kriminalisierung oder Entkriminalisierung der Drogenwirtschaft. Das ist ein Problem, das kann Kolumbien nicht lösen. Im Einzelfall gibt es Strategien, die Bauern davon zu überzeugen, andere Produkte anzubauen. Das ist aber eine Landwirtschaftsreform, die auch bei uns zweihundert Jahre gedauert hat.

Friedensprozess wird das Drogenproblem nicht lösen

Deutschlandfunk Kultur: Das heißt, das ist dieses Substitutionsprogramm. Die kolumbianische Regierung ist ja schon dabei, andere Wege zu gehen. Also, der Drogenkonsum ist zumindest in Kolumbien weitgehend entkriminalisiert. Wäre es nicht an der Zeit, generell über eine Entkriminalisierung oder sogar Legalisierung von selbst harten Drogen wie Kokain weltweit nachzudenken?
Tom Koenigs: Darüber denkt man ja nach. Und interessanterweise sind immer die Ex-Generalsekretäre der Vereinten Nationen oder Ex-Präsidenten von vielleicht auch Guatemala und Mexiko der Meinung, man müsse das machen. Aktiv als Präsidenten in der Exekutive trauen sie sich nicht, weil der Druck der Vereinigten Staaten als Hauptabnehmerland so stark ist, dass es dort eine ganze Antidrogenwirtschaft oder Verwaltung gibt, die sich meines Erachtens neuen Vorstellungen da in den Weg stellt.
Zu hoffen, dass der Friedensprozess in Kolumbien das Drogenproblem lösen wird, das ist Illusion.
Trotzdem geht unterhalb dessen was. Wenn man Frieden machen will, muss man bei kleinen Punkten anfangen. Und der FARC-Prozess mag ein relativ kleiner sein, er hat aber Spezifika, die äußerst interessant sind. Das ist vor allem die Konzentration und der Ausgangspunkt von den Opfern.
Deutschlandfunk Kultur: Dennoch beharre ich jetzt mal ganz kurz auf der Frage nach Legalisierung der Drogen. Sie persönlich als Politiker - favorisieren Sie eine weltweite Legalisierung der Drogen, um auch diese enormen illegalen Geldflüsse zu stoppen und eben viele Menschen auch aus der Kriminalität zu holen?
Tom Koenigs: Ich bin der Meinung, man muss bei den Konsumenten anfangen, denen gute Angebote zum Ausstieg geben. Man muss es entkriminalisieren, weil man es sonst überhaupt nicht kontrollieren kann. Damit würden die Preise einbrechen und würde auch die Drogenwirtschaft im internationalen Bereich langsam entschwinden.
Jetzt zu sagen: "Legalisieren der Drogen!" - das ist vielleicht ein bisschen früh. Wenn es die Jamaika-Koalition schafft, wenigstens das Cannabis zu legalisieren in Deutschland, ist schon viel geschafft.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Koenigs, kommen wir doch mal jetzt zurück auf die Spezifika des kolumbianischen Friedensabkommens, des Prozesses, der ja im Moment doch in einer entscheidenden Phase ist. Die Entwaffnung ist auch nach Einschätzung der Vereinten Nationen abgeschlossen und gelungen.
Die Guerilleros mussten eine Reihe von Vorleistungen bringen. Sie haben gesagt, die haben sie alle gebracht.
Haben sie wirklich alle ihre Vermögenswerte - sie haben ja auch Schutzgelder auf den Drogenhandel über Jahre kassiert, um ihren Krieg zu finanzieren usw. - haben sie alle ihre Vermögenswerte wirklich der Regierung in Kolumbien übergeben und erklärt?
Tom Koenigs: Also, die Gegner des Prozesses haben am Anfang gesagt: "Die Guerilleros werden sich nicht alle stellen. Da gibt es soundso viele Dissidenten." – Hat nicht gestimmt! Dann haben sie gesagt: "Die werden ja gar keine Waffen abgeben!" – Bei Entwaffnungsprozessen rechnet man: Wenn fünfzig Prozent abgegeben ist, ist es schon viel. Hier sind alle Waffen und auch alle Verstecke ausgeräumt worden. Und jetzt sagt die Opposition: "Jetzt habt ihr euer Vermögen nicht abgegeben." – Es gibt Besitzverhältnisse an Fincas, vor allem Landbesitz, die äußerst strittig sind. Im Zuge dieses 53-jährigen Konfliktes sind natürlich illegale Landgeschäfte getätigt worden, die unter Umständen auch den einen oder anderen Guerillero begünstigen. So was wie Restitution, wie wir jetzt siebzig Jahre später versuchen, ist in Kolumbien nur ganz, ganz schwer. Das ist ein dickes Brett, das zweifellos gebohrt werden muss. Aber es gibt keinerlei konkreten Hinweis, dass die FARC irgendwo Vermögen bunkert. Sie haben jetzt eine neue Partei gegründet, die auch FARC heißt, aber es wird anders. Da ist das Ziel dann Gemeinwohl. Und das "Armas", das "A", ist "Alternative".

Keine Hinweise auf große versteckte Vermögen

Deutschlandfunk Kultur: Also, das ist dann die alternative revolutionäre Kraft des Volkes, des Gemeingutes?
Tom Koenigs: So heißt das. Aber es spricht gegenwärtig überhaupt nichts dafür, dass die irgendwelche Vermögen zurückhalten. Das wäre auch relativ schwierig. Und man muss schon ehrlich sein. Die Guerilla hat, und zwar auf Punkt und Komma, die Vereinbarung erfüllt. Jetzt ist die Regierung dran und auch das Parlament dran und auch die gesellschaftlichen Verbände, einschließlich der Wirtschaft bis hin zur Kirche aufgerufen, nun auch mal über ihre Verantwortung in einem fünfzigjährigen Konflikt zu reden.
Wer hat die Kanonen gesegnet? Wer hat die Paramilitärs ausgerüstet? Wer hat viel Geld gesammelt? Wer hat zum Beispiel verhindert, dass es Lösungen im Drogenproblem gibt? – Da muss man dann an verschiedene eigene Nasen fassen.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben gesagt: "Das Besondere an dem Vertrag in Kolumbien ist, dass er sehr von der Perspektive der Opfer ausgeht." Jetzt ist es für die Opfer natürlich sehr, sehr wichtig, dass sie erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist. Ich habe vorhin die Zahl der immer noch Vermissten, der Verschwundenen genannt. Das sind horrende Zahlen. Die Übergangsjustiz und die Wahrheitskommission sind zwei Kernelemente in diesem Sinne, um diese Opferperspektive in dem Vertrag zu betonen.
Jetzt hat es bis diese Woche gedauert, die Mitglieder der Wahrheitskommission und auch die Richter und die Mitglieder – etwa vier Dutzend – für diese Sondergerichtsbarkeit, für diesen Sondergerichtshof zu bestellen. Hat da die Regierung ihre Aufgaben zu gründlich gemacht? Hat sie einfach verschleppt, verzögert? Woran lag das?
Tom Koenigs: Dieser Punkt der Übergangsjustiz oder Sonderjustiz ist meines Erachtens sehr korrekt abgelaufen. Auch da haben die Kritiker gesagt. "Der entscheidende Punkt ist die neutrale und unabhängige Kommission, die die Richter wählt und bestimmt." Da gab es Riesenkritik, bis hin zu Human Right Watch, die sich aber alle nicht bestätigt haben. Denn jetzt ist es über einen zweifellos komplexen und langwierigen Prozess, da haben sich zweitausend Leute beworben, Richter, zu einem Ergebnis zu kommen, das jetzt dieser Tage veröffentlicht wird und das bisher sehr viel Legitimation hat.
Denn man muss ja immer sagen: Der Prozess ist strittig. Alle Seiten brauchen Legitimation, überhaupt den Prozess anzunehmen und so eine Sonderjustiz einzurichten. Man muss sich mal daran erinnern. Wir hatten die Justiz der Alliierten erstmal in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg. Dann hatten wir ganz lange gar nichts. Und dann haben wir wenigen Nazis den Prozess gemacht. Die meisten sind wieder frei gekommen. Und heute werden ein paar hundertjährige KZ-Wächter vor Gericht gezogen. – Das war unsere Übergangsjustiz!
Dort verlangt man in der Situation, also ein Jahr nach dem Friedensschluss soll die Übergangsjustiz beginnen. Und sie wird auch beginnen. Trotzdem hat sie unglaubliche Schwierigkeiten, denn das muss man mal zusammenbringen. Die Erfahrungen von Den Haag sind ja nicht nur positiv. Und die Anzahl der Verfahren, die zum Beispiel in Den Haag - da ist die ganze internationale Gemeinschaft dahinter - geschafft worden sind, ist minimal.
In Argentinien hat man in einer Justiz, die die damalige Diktatur bearbeitet hat, zwanzig Jahre gebraucht, bis auch nur fünfhundert Fälle bearbeitet wurden. Hier redet man von großen Anzahlen und auch sehr vielen Beteiligten.

Schwieriger Prozess in der Justiz

Deutschlandfunk Kultur: Also, man redet von zwölf- bis fünfzehntausend Tätern, die zur Rechenschaft gezogen werden könnten, sollten, müssten vor dieser Sondergerichtsbarkeit. Aber ein entscheidender Punkt, den man immer wieder in der Bevölkerung in Kolumbien hört, ist doch, dass ausgerechnet diejenigen, die Menschenrechtsverbrechen begangen haben, künftig einfach im Senat sitzen, bevor überhaupt untersucht wurde von Wahrheitskommission und Sondergerichtsbarkeit, inwieweit sie sich schuldig gemacht haben. Und selbst wenn sie schuldig erklärt werden, ist die maximale Strafe ein Freiheitsentzug von nur acht Jahren und noch nicht einmal unbedingt im Gefängnis.
Verstehen Sie, dass das vielen Kolumbianern, die unter der Guerilla gelitten haben, die Familienangehörige verloren haben, nicht verstehen können?
Tom Koenigs: Ich sehe, dass es in den Prozessen, wo Verantwortung übernommen worden ist und sich die Täter den Opfern oder den Verbänden gestellt haben, eine unglaubliche Großzügigkeit gab – auch in ganzen Ortschaften, die schwerstens gelitten haben. Deshalb ist meines Erachtens der Weg der Versöhnung über eine unmittelbare Erzählung und Geständnis und Bitte um Vergebung der richtige.
Wie lange dann die Leute hinter Gitter kommen, ist in dem Fall ja verhandelt. Das ist ja nicht ein oktroyierter oder ein in den Gesetzen schon bestehender Prozess, sondern das ist eine neue Justiz, die geschaffen worden ist und die Reintegration auf der einen Seite und Wahrheit und Gerechtigkeit auf der anderen Seite anbietet. Das ist neu.
Man kann sich nun, wenn man die Gefängnisstrafen schätzt und glaubt, dass die Menschen dadurch besser werden, darüber ärgern, dass sie nicht 25 Jahre hinter Gitter kommen. Aber welcher Guerillero hätte denn einen Vertrag unterschrieben, an dessen Ende er sofort hinter Gittern ist? Und das Verfahren der Alternativjustiz muss ja erstmal beginnen, bevor man jemandem sagen kann, du kannst aber nicht ins Parlament. Deshalb ist jetzt erstmal das zu erfüllen, was man gesagt hat: Legt die Waffen hin, nehmt die Stimmzettel! Das muss man auch ermöglichen. Deshalb sollte diese Organisation auch funktionieren.
Das Interessante an der Übergangsjustiz und das auch völlig Neue, ist, dass diese Übergangsjustiz damit beginnt, dass die Täter vollständig und wahrheitsgemäß über ihre Tat berichten. Das hat es in überhaupt keinem Prozess – vielleicht in Südafrika ein wenig – bisher gegeben. Aber in Deutschland hat ja kein einziger der Nazitäter von sich gesprochen, ich habe das und das gemacht, und die RAF-Täter auch nicht. Und hier ist das überhaupt der Eingang, in diese Übergangsjustiz hereinzukommen mit den zweifellos richtig milderen Strafen.
Das ist schwierig ausgehandelt worden. Und das ist auch schwierig zu ertragen. Wenn ich mir aber die Erfahrungen bei anderen Verfahren, zum Beispiel in Guatemala, wo es nicht mal gelungen ist, letzten Endes die Hintermänner des Mordes am Bischof zu ermitteln, ansehe, dann ist das eigentlich ein sehr viel versöhnlicherer Weg für beide Seiten – für die Seiten der Täter, die irgendwann dann doch wieder integriert werden müssen, und für die Seiten der Opfer, die den Tätern gegenübergestellt werden und dann auch erzählen können, was sie erlitten haben, sowohl vor Gericht, der Sonderjustiz, als auch in der Wahrheitskommission, die ich ja in dem Zusammenhang für äußerst wichtig halte. Denn das sind die Zeitzeugen. Das ist die Geschichte. Das ist die Möglichkeit für jeden, seine Erzählung dann auch zu Papier zu bringen.
Deutschlandfunk Kultur: Also, das könnte exemplarisch sein für andere Friedensverhandlungen in der Welt Ihrer Meinung nach?
Tom Koenigs: Es könnte ein Fortschritt sein. Und mit der Tätererzählung zu beginnen als Einstieg in die mildere Justiz, da ist ein Novum, das ist auch interessant, das wird auch beobachtet werden, das setzt natürlich voraus, dass die Gesellschaft sich nicht weiterhin an diesem Punkt spaltet, sondern sich hinter so einem Konzept mindestens mehrheitlich versammelt.
Deutschlandfunk Kultur: Wir haben vorhin darüber gesprochen, Tom Koenigs, dass die FARC sich jetzt als politische Kraft mit dem gleichen Kürzel etabliert hat, nur eben mit anderer Bedeutung, dass es jetzt die Alternative revolutionäre Kraft des Gemeinwohls des Volkes ist. – Welche Chancen rechnen Sie dieser Partei aus bei der Wahl, die ja für den Kongress im nächsten Frühjahr und im Mai dann auch die Präsidentschaftswahl anstehen da in Kolumbien?
Tom Koenigs: Der Führer der Opposition gegen den Friedensvertrag, Alvaro Uribe, früherer Präsident, hat mir gegenüber gesagt: Wenn dieser Friedensvertrag so durchkommt, wie er dann durchgekommen ist, dann ist Timoschenko, der Chef der Guerilla, in drei Jahren Präsident und ich im Gefängnis. – Das ist vollkommener Unsinn.
Wenn es dieser Organisation, der neuen Organisation gelingt, zehn Prozent Stimmen zu gewinnen, dann hätten sie schon sehr viel.

Kriminalisierung der Linken

Deutschlandfunk Kultur: Sie orientiert sich ja sehr auch an dem venezolanischen Modell, das ja im Moment in Aufruhr ist – gelinde gesagt. Also, Maduro führt das Land ja in eine Katastrophe. Ist das abschreckend auch für die kolumbianischen Wähler, dass der Misserfolg des Chávismus des Sozialismus der venezolanischen Prägung hier als warnendes Beispiel dient? Wenn die FARC das will, dann nicht mit uns?
Tom Koenigs: Man könnte der FARC nur empfehlen, dass sie die Erfahrungen, die Kolumbianer an der Grenze ja selber machen, mit in die Betrachtungen einbeziehen und sich nicht zu stark auf das venezolanische Modell beziehen. Denn das ist der Weg in den Untergang. Das ist offensichtlich, dass dort durch Misswirtschaft und auch durch Regierungsfehler ein Land an die Grenze der Hungersnot kommt.
Ich weiß nicht, in welche Richtung sich die Organisation entwickelt. Man muss aber sehen, dass die Parteien im kolumbianischen Spektrum, das Linkeste wäre wahrscheinlich Merkel, links davon gibt es dann fast nichts mehr, weil das alles kriminalisiert worden ist und gesagt wurde, ihr seid Terroristen. Und für eine sozial engagierte und die Landbevölkerung einbeziehende Partei ist Raum. – Mehr Demokratie wagen!
Deutschlandfunk Kultur: Mehr Demokratie wagen. Wir haben die Präsidentschaftswahl im nächsten Jahr. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ein eher konservativer Kandidat die Wahl für sich entscheidet. Befürchten Sie, dass der Friedensprozess vielleicht nochmal umgedreht werden könnte, oder ist der unumkehrbar für Sie, also, durch einen anderen Kandidaten, einen konservativen Kandidaten, der gegen den Prozess ist?
Tom Koenigs: Es ist schon sehr viel erreicht über den Prozess. Von den Ergebnissen könnte durch einen konservativen Kandidaten einiges zurückgenommen werden. Das heißt aber nicht, dass Kolumbien wieder bei Null anfangen müsste.
Deutschlandfunk Kultur: Noch ein Wort zur ELN: Glauben Sie, dass da auch die Verhandlungen der zweitgrößten, etwa zweitausend Kämpfer umfassenden Guerilla, wir haben vorhin über Waffenruhe gesprochen für ein paar Monate, zum Erfolg geführt werden können?
Tom Koenigs: Die Verhandlungen haben eine Chance. Wir begleiten die ja von Deutschland ganz besonders eng. Wir müssen den langen Atem haben, aber ich glaube, um zu versuchen, Frieden auch mit der ELN zu machen, lohnt es.
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