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Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn
"Es geht um fundamentale Grundwerte der Europäischen Union"

Beim Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn gehe es darum, Grundwerte wie Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit zu schützen, sagte die Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament, Ska Keller, im Dlf. Die Grundrechte müssten auch für die Menschen in Ungarn gelten. Dass sich die EU dafür einsetze, sei gut und richtig.

Ska Keller im Gespräch mit Stefan Heinlein | 13.09.2018
    Ska Keller, Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament
    Ska Keller, Fraktionsvorsitzende der Grünen im EU-Parlament (dpa / Eventpress Stauffenberg)
    Stefan Heinlein: Auf fast 80 Seiten ist Punkt für Punkt aufgelistet, wie Ungarn aus Sicht des Europaparlaments die europäischen Werte mit Füßen tritt und den Rechtsstaat gefährdet. Die Hauptvorwürfe: Kriminalisierung von NGOs, staatliche Übernahme von Medien und die systematische Beeinflussung der Justiz. Ungarn hat die rote Linie im Bereich der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit überschritten, heißt es in Straßburg. Das EU-Parlament stimmte deshalb mit der notwendigen Zwei-Drittel-Mehrheit für ein Artikel-sieben-Verfahren – ein Verfahren wegen der Verletzung der Rechtsstaatlichkeit.
    Am Telefon nun Ska Keller, Fraktionschefin der Grünen im Europäischen Parlament. Guten Morgen, Frau Keller.
    Ska Keller: Guten Morgen.
    Heinlein: Warum stellen Sie Ungarn an den Pranger?
    "Die Rechte der Ungarinnen und Ungarn schützen"
    Keller: Es geht hier darum, die Rechte der Ungarinnen und Ungarn zu schützen, denn das sind ganz genauso wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union nicht Bürger der zweiten Klasse und wir müssen uns darum kümmern, wie es aussieht in Ungarn und natürlich auch überall sonst, und fundamentale Grundwerte der Europäischen Union wie Rechtsstaatlichkeit, wie Demokratie, Pressefreiheit, die müssen wir schützen, und das genau macht der Bericht.
    Heinlein: Nun haben die Ungarn, die Sie schützen wollen, Viktor Orbán gewählt. Warum müssen sie aus Brüssel, aus Straßburg da belehrt werden?
    Keller: Wenn man gewählt ist und die Mehrheit im Parlament hat, dann heißt das noch lange nicht, dass man einfach so die unabhängige Presselandschaft beeinflussen kann, die Justiz beeinflussen kann, dass die Zivilgesellschaft kriminalisiert werden kann. Das Recht der Mehrheit ist nicht das Recht des Stärkeren, wo man die Minderheiten dann drangsalieren kann, zumal ja auch Orbán einiges gedreht hat am Wahlrecht in Ungarn, sodass es für ihn immer leichter wird, Mehrheiten zu organisieren.
    Heinlein: Frau Keller, Viktor Orbán nennt das nun aber eine Frage der Ehre, und viele Ungarn stimmen ihm da durchaus zu. Man will sich von Brüssel nicht reinreden lassen, wie man zu denken und zu handeln hat.
    "Werte und Grundrechte müssen auch für die Menschen in Ungarn gelten"
    Keller: Es gibt schon auch noch das andere Ungarn, die Leute, die Angst haben, kriminalisiert zu werden, die Leute, die zum Beispiel für NGOs, Nichtregierungsorganisationen arbeiten, die jetzt als ausländische Verräter gelabelt werden. Es gibt das andere Ungarn, die auf die Straße gehen, für Pressefreiheit zum Beispiel, und die können wir nicht außer Acht lassen und die berufen sich auf die Europäische Union, berufen sich darauf, dass ihr Land Ungarn ja freiwillig beigetreten ist der Europäischen Union, wo bestimmte Werte und Grundrechte gelten. Die müssen auch für die Menschen in Ungarn gelten.
    Heinlein: Die EU ist die Stimme der Minderheit gegen die Mehrheit in Ungarn?
    Keller: Das sind gar nicht so wenige Leute. Wie gesagt, das Wahlrecht wurde so geändert von Orbán, dass es leicht für ihn ist, in Wahlkreisen eine de facto Mehrheit zu erreichen. Die muss sich nicht unbedingt in der Mehrheit der Menschen dort abbilden. Das sollte man nicht so runterreden als Minderheit. Es gibt viele Leute und in der Tat: Minderheitenrechte sind so ein ganz fundamentaler Wert der Europäischen Union. Kein Staat kann beitreten, der Minderheitenrechte missachtet.
    Heinlein: Es gibt ja noch einen weiteren sehr massiven Vorwurf von Viktor Orbán an die Adresse der Europäer. Ich zitiere: Sein Land werde bestraft, weil die Bevölkerung entschieden habe, man sei kein Einwanderungsland. Wie lässt sich, Frau Keller, gegen diesen Vorwurf argumentieren, wenn offensichtlich eine Mehrheit der Ungarn ihrem Ministerpräsidenten genau diesen Vorwurf glaubt?
    "Ungarn und Polen haben uns gelehrt, wie man für Demokratie kämpft"
    Keller: Ja, das ist ein ziemlich absurder Vorwurf. Er bezieht sich sicherlich auf eine sehr absurde Abstimmung, die es gab vor einiger Zeit in Ungarn, wo mit völlig suggestiven Fragen Orbán eine Abstimmung machen wollte über, dass Brüssel sich nicht einmischen soll und so weiter und so fort. Trotz der sehr suggestiven Fragen, trotz der massiven Kampagne, die er gefahren hat, haben nicht genug Leute abgestimmt, um da überhaupt auf irgendein Quorum zu kommen. Das ist ein sehr absurder Vorwurf von Orbán.
    Heinlein: Frau Keller, in Ungarn, aber auch in anderen Ländern Ost- und Mitteleuropas empfindet man das durchaus anders. Man hat Aversionen gegen diesen demokratischen Nachhilfeunterricht aus Brüssel. Wird der Graben zwischen Ost und West in Europa, zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern wieder tiefer, genau wegen dieser Geschichten jetzt wie mit Polen oder aktuell mit Ungarn?
    Keller: Es sind ja genau die Ungarn. Es sind genau die Polen, die uns gezeigt haben in Europa, wie das ist, für Demokratie zu kämpfen. Polen war Vorreiter bei der Frage der unabhängigen Justiz. In Ungarn sind die Leute auf die Straße gegangen und waren ein großes Vorbild für den gesamten Ostblock. Genau die Ungarn, die Polen und und und, die haben uns gelehrt, wie man für Demokratie kämpft, wie man dafür einsteht, für Menschenrechte, für Bürgerrechte. Wir haben da sehr, sehr viel zu lernen von den Ungarn und Polen. Nur leider hat Orbán, der ja früher auch gegen das kommunistische Regime kämpfte, sich jetzt leider geändert und wird auch zum autoritären Regierungschef, und es ist klar: Wer Mitglied der Europäischen Union ist, der muss sich an Grundrechte halten. Die Menschenrechtscharta, die gilt nun mal überall und es gibt keine Bürgerinnen und Bürger der ersten und zweiten Klasse.
    Heinlein: Das was Sie zitieren, war 1989, damals beim Fall des Eisernen Vorhangs. Mittlerweile ist die Gefühlslage in vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas anders. Dort hat man eher das Empfinden, fremdbestimmt zu werden, früher aus Moskau und jetzt aus Brüssel, und es werde keine Rücksicht genommen auf ihre Erfahrungen, auf die Werte und Traditionen. Das hört man sehr oft, nicht nur in Budapest. Warum ist Brüssel so harsch im Umgang mit Ungarn, Polen und den anderen Visegrád-Ländern?
    "Die Leute verlassen sich darauf, dass jemand für sie einsteht"
    Keller: Wenn Sie schauen, was in Ungarn, was in Polen passiert – da gehen unglaublich viele, hunderttausende Menschen auf die Straße und demonstrieren genau für diese Rechte, für die Grundwerte, für die auch das Europäische Parlament einsteht. Die Leute verlassen sich darauf, dass irgendjemand noch für sie einsteht. Ihre eigenen Regierungen tun das nicht und irgendwer muss das machen. Ich finde es richtig, dass die Europäische Union es tut, denn wieder mal: Es ist ein freiwilliger Klub. Ungarn, Polen, die Länder sind freiwillig beigetreten. Es ist übrigens auch nicht nur so, als ob Regierungen in Polen oder Ungarn alle Schuld auf Brüssel schieben. Das ist ja ein sehr beliebter Sport, den wir zum Beispiel auch in Österreich sehen. Aber selbst wenn jetzt deutsche Debatten kommen, dann heißt es immer, alles Schlechte kommt aus Brüssel, alles Gute haben wir doch selber gemacht. Das ist ein sehr verbreiteter Sport. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es Leute gibt, die verlassen sich darauf, dass jemand eintritt für ihre Grundrechte. Es geht hier um fundamentale Dinge: Kann ich meine Meinung äußern? Gibt es freie Presse? Kann ich demokratisch frei abstimmen? Ist meine Justiz unabhängig? – Das sind keine Kleinigkeiten. Da geht es darum, dass das Fundament der Demokratie noch da ist, und dafür müssen wir sorgen in der Europäischen Union.
    Heinlein: Ein sehr leidenschaftlicher Appell, Frau Keller. Wie wahrscheinlich ist es nun, dass Ungarn einlenkt und wieder zurückkehrt in die von Ihnen geforderten europäischen Werte und Normen, in den Mainstream von Brüssel, wie es heißt? Bei Polen hat das bislang ja auch nicht funktioniert.
    Keller: Ja! Ich glaube, es braucht Druck von den Mitgliedsstaaten. Als Parlament haben wir einen ganz, ganz wichtigen ersten Schritt getan, und die Aufmerksamkeit darum zeigt auch, dass das eine wirkliche Wirkung hat. Jetzt sind die Mitgliedsstaaten am Zug. Sie haben es ja vorhin erläutert. Die müssen sich jetzt mit dem Fall Ungarn befassen und müssen sich dann auch klar bekennen, ob sie einstehen wollen für die Grundwerte und was sie dafür bereit sind zu tun. Der Ball liegt jetzt ganz klar im Feld der Mitgliedsstaaten und wir sind gespannt darauf, wie sich das dann entwickelt.
    Heinlein: Im Deutschlandfunk heute Morgen die Fraktionschefin der Grünen im Europaparlament, Ska Keller. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!
    Keller: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.